Seit der Terrorattacke der Hamas am 7. Oktober 2023 hat laut der Financial Times kein Finanzzentrum der Welt so ein Wachstum hingelegt wie die Börse von Tel Aviv. Die anfänglichen Kursverluste waren innerhalb von vier Wochen aufgeholt und die Werte sind seitdem um über 80 Prozent gestiegen. Auch der neuerliche Schlagabtausch mit dem Iran, in dessen Verlauf das Börsengebäude sogar von einer Rakete getroffen wurde, konnte diesem Höhenflug nichts anhaben. Ganz im Gegenteil: Finanzanalysten begrüßten die vermeintliche »Risikominderung« durch den völkerrechtswidrigen Angriff auf den Iran, denn Israel besitzt nun die unangefochtene regionale Vorherrschaft.
Während der israelische Staat massive Defizite anhäuft und der Rest der Wirtschaft unter Unsicherheit und Personalmangel leidet, profitieren viele Konzerne im In- und Ausland von der Siedlungspolitik und den militärischen Eskalationen der Regierung – darunter auch viele deutsche Unternehmen. Die Leidtragenden dieser Maschinerie der Verwüstung sind in erster Linie die Palästinenserinnen und Palästinenser. Gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und seinen ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant liegen wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen Haftbefehle vom Internationalen Strafgerichtshof vor.
Francesca Albanese, die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für die palästinensischen Gebiete, geht in einem neuen Bericht der Verantwortung der Privatwirtschaft für die völkerrechtswidrige israelische Besatzung, Bekämpfung und Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung nach. Für dieses Dokument und ihr Eintreten für die Rechte der Menschen in Palästina wurde sie persönlich vom US-Außenministerium mit Sanktionen belegt, das ihr »parteiische und böswillige Aktivitäten« vorwarf. Sie reagierte darauf über den Kurznachrichtendienst X: »Wenn die Mächtigen diejenigen bestrafen, die für die Ohnmächtigen sprechen, ist das kein Zeichen von Stärke, sondern von Schuld.«
Die Verantwortung von Unternehmen für Vertreibung und Genozid im Einzelfall vor Gericht feststellen zu lassen, ist schwer, denn es gibt international keine einheitliche Gesetzgebung, Durchsetzung und ohnehin wenig Präzedenzfälle. Albanese geht es jedoch nicht um die Verurteilung individuellen Fehlverhaltens, sondern vielmehr um die Erklärung eines Systems und die Benennung von Akteuren, die mit der Vertreibung und dem Austausch (displacement and replacement) der einheimischen Bevölkerung Geschäfte machen. Für diese Geschäftsinteressen wäre ein gerechter Frieden in Israel/Palästina entsprechend ungünstig.
»Ökonomischer Frieden« statt politischer Lösung
Albanese erweitert in ihrem Bericht eine Datenbank von Unternehmen, die 2020 von den Vereinten Nationen eingerichtet worden war, um herauszufinden, wer »den Bau und das Wachstum der Siedlungen direkt und indirekt ermöglicht, erleichtert und davon profitiert hat«. Sie fügt zum Beispiel den deutschen DAX-Konzern Heidelberg Materials (bis 2023 HeidelbergCement AG) hinzu, einen der größten Zementproduzenten der Welt. Die israelische Tochterfirma Hanson betreibt unter anderem einen Steinbruch im palästinensischen Nahal Raba, jenseits der »Green Line«, also der völkerrechtlich gültigen Grenze von 1967. Die Palästinenser, die niemals eine Förderlizenz zu den gleichen Bedingungen bekommen würden, werden dadurch mehrfach enteignet: durch die Ausbeutung ihrer Rohstoffe und ihrer Arbeitskraft, sowie durch die Verwendung der Materialien im illegalen Siedlungsbau, der sie von ihrem Land verdrängt. Auf den Betrieb und die Einnahmen des Steinbruchs werden Steuern und Abgaben fällig, die wiederum der israelischen Verwaltung der Besatzung zufließen. Von dieser Wertschöpfung fallen allenfalls ein paar Lohnkrümel für die Palästinenser ab. Zudem sind ihre Freiheiten im Vergleich zu israelischen Arbeitskräften stark eingeschränkt. Von einer unabhängigen palästinensischen Ökonomie kann ohnehin keine Rede sein, denn Israel kontrolliert sämtliche Wirtschaftsinfrastruktur wie Ausfuhrkontrollen, Gewerbelizenzen und Arbeitserlaubnisse. Das ist im Kern der »ökonomische Frieden«, den Netanjahu den Palästinensern vor dem 7. Oktober anstelle einer politischen Einigung verkaufen wollte.