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Das Wirtschaftsmagazin

Grunderbe, Migration, Mindestlohn: Was Ostdeutschland heute braucht

35 Jahre nach der Wende sind große Teile des Ostens ökonomisch abgehängt. Ein Grunderbe würde helfen – auch gegen die AfD.

5 Minuten Lesedauer

Das 1952 geschaffene Wandbild am Eingang zum ehemaligen DDR-Haus der Ministerien in Berlin-Mitte. Credit: IMAGO/Hohlfeld

Vor 35 Jahren wurde Deutschland wiedervereinigt, Ossis und Wessis lagen sich in Berlin in den Armen. Sie schlugen die Mauer in Stücke, feierten tagelang in den Ruinen der DDR – und viele Ostdeutsche hofften auf eine freiere und bessere Zukunft. Doch heute ist von dem Einheitsgefühl nicht mehr viel übrig. Einer aktuellen Umfrage zufolge empfinden 75 Prozent der Menschen in Ostdeutschland das Trennende stärker als das Verbindende, auch im Westen sind es immerhin 61 Prozent. Und: Nach wie vor sind die Unterschiede zwischen Ost und West riesig. 

Ökonomische Faktoren sind dabei von enormer Bedeutung. Menschen in Ostdeutschland verdienen im Schnitt 800 Euro weniger als im Westen: 4.810 Euro brutto sind es pro Monat im Westen, 3.973 Euro im Osten. 2024 erhielten Westdeutsche viermal so hohe Summen durch Erbe und Schenkungen wie Ostdeutsche. Das Durchschnittsvermögen liegt im Westen bei 182.000 Euro, im Osten gerade mal bei 88.000 Euro – Ossis haben also weniger als die Hälfte. Der Aufbau von Wohlstand ist in Deutschland stark von der Weitergabe von Vermögen innerhalb der Familie abhängig. Deutschland ist eine »Erbokratie«, um die Chancengleichheit steht es schlecht. Es ist also nicht zu erwarten, dass sich ökonomische Unterschiede zwischen Ost und West in naher Zukunft aufheben. 

Wie dünn gesät der Wohlstand im Osten ist, lässt sich auch daran ablesen, dass fast 30 Prozent der Ostdeutschen im Niedriglohnbereich arbeiten, wie der Soziologe Steffen Mau in seinem Buch Ungleich vereint schreibt. Ostdeutschland sei ihm zufolge das »Land der kleinen Leute«. Der Anteil von Ostdeutschen an Spitzenjobs etwa in Justiz, Politik, Medien und Kultur ist gering und sogar rückläufig. Selbst im Osten sind die ostdeutschen Eliten in der Unterzahl, da hier nach der Wende oft Westdeutsche die Führungsrollen übernahmen. 

Das Trauma der ostdeutschen Transformation

Hinter diesen Entwicklungen verbirgt sich das ganze Trauma der ostdeutschen Transformation. Nach der Wende führte die schwarz-gelbe Regierung unter Helmut Kohl die angeschlagene sozialistische Ökonomie brachial in den westdeutschen Kapitalismus. Die Treuhand verscherbelte ehemaliges Staatseigentum an westdeutsche Firmen und Investoren, ohne dabei in irgendeiner Weise die Bedeutung von Betrieben für die Regionen zu kennen oder eine sinnvolle Strategie zum Aufbau regionaler Ökonomien zu verfolgen. Die ostdeutschen Betriebe hatten in der DDR eine sozialintegrative Funktion, sie waren lebensweltliche Zentren mit Betriebssportgemeinschaften, Kulturgruppen, Kindergärten, Ferienangeboten und Arztpraxen. 

Auch wenn in diesen Betrieben Kontrolle durch die SED sowie politischer und lebensweltlicher Konformitätszwang ausgeübt wurden, gab es durchaus bestimmte Formen von Mitbestimmung. Betriebe waren in der DDR Orte einer – wenn auch ambivalenten – Vergemeinschaftung, man lese nur einmal Christa Wolfs Der geteilte Himmel oder Fünf Tage im Juni von Christoph Heym. 

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Matthias Ubl

Matthias Ubl ist Chef vom Dienst bei Surplus. Als Journalist arbeitete er unter anderem für »Die Zeit« und die »FAZ«. Er ist Host des Podcast »Jacobin Talks«.

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