Der einstige Arbeitsplatz von Eckhard Hoika liegt auf dem Grund eines Badesees. Der große Mann mit runder Brille, grünem Poloshirt und kurzer Hose schlängelt sich an Urlaubern vorbei auf die Strandpromenade und bleibt vor einem Holzbrett stehen, auf das eine Karte gedruckt ist. Er tippt mit dem rechten Zeigefinger auf einen großen, blauen Fleck: »Großräschener See« steht da, nur ein paar Autominuten entfernt. »Ich kann meinen Kindern nicht mehr zeigen, wo meine Tante gelebt hat oder wo ich als Jugendlicher gespielt habe – das ist nicht mehr da«, sagt er und stützt die Hände in die Seite. Hoika war Bergmann, genau wie sein Vater und sein Urgroßvater. Doch der Tagebau Meuro ist heute versunken – wie viele andere Orte hier in der Lausitz bei Cottbus.
In ganz Deutschland werden ehemalige Kohleabbaugebiete zu Tourismusregionen. In den drei großen Revieren in Mitteldeutschland, in Nordrhein-Westfalen und hier in der Lausitz werden dafür ehemalige Tagebaue geflutet und zu Seen umgebaut. Hunderte davon gibt es in ganz Deutschland, 400 allein in Brandenburg, laut ansässigem Wirtschaftsministerium. Mit dem geplanten Kohleausstieg 2038 werden weitere dazukommen. Gefördert wird der Umbau auch durch den Strukturstärkungsfonds. Insgesamt 40 Milliarden Euro investiert der Bund bis 2038 in die Kohleregionen: Es werden Gewerbegebiete gebaut, Forschungsstandorte eröffnet und erneuerbare Energien gefördert. Und mit einem Teil der Mittel soll der Tourismus dort gestärkt werden, wo bislang Krater in den Landschaften klaffen.
Daran verdient auch Eckhard Hoika, der mittlerweile mehr Arbeitszeit im Tourismus als im Bergbau verbracht hat. Als sein Tagebau nach der Wiedervereinigung geschlossen wurde, kam er noch für ein paar Jahre bei einer privaten Firma unter. Dann war auch dort Schluss. Als die ersten Seen vollliefen und die ersten Radwege gebaut wurden, machte Hoika sich selbstständig. Heute verleiht er Fahrräder und organisiert Touren in Tagebaue, erzählt Besuchern vom Kohleabbau und seinen Folgen. Und das Geschäft läuft gut.
An diesem Montagmorgen Mitte Juli tummeln sich immer mehr Touristinnen und Touristen in Funktionskleidung vor der grünen Holzhütte, in der Hoika seinen Fahrradverleih und Tourenbüro Iba Aktiv Tours hat. An der Bürotür stimmt ein kleines Blechschild auf den Urlaub im ehemaligen Tagebau ein: »Lieber mit dem Fahrrad zum Strand, als mit dem Mercedes ins Büro«.
Als Hoika von der Strandpromenade zurück in sein Büro kommt, wird er gleich von einem Paar aus Sachsen in Sandalen angesprochen: »Wir wollten uns zur Tagebautour erkundigen«. Seine Kollegen verleihen Tret-Gokarts an Kinder und Fahrräder mit vier Sitzen. Ständig klingelt das Telefon, ständig will jemand etwas von Hoika. Dabei ist heute eigentlich sein Ruhetag. Hier im Familienpark am Senftenberger See, an der Grenze zwischen Brandenburg und Sachsen, haben 2000 Urlauber ihre Zelte aufgeschlagen und ihre Campingwagen geparkt. Es gibt Restaurants, Kneipen, Bootsanleger und ein Theater mit 600 Plätzen. Nichts erinnert daran, dass dort, wo heute Strandkörbe im Sand stehen, bis vor wenigen Jahrzehnten haushohe Maschinen hunderte Millionen Tonnen Braunkohle aus der Erde gerissen haben. Fast 25 Meter tief haben sie sich hier im ehemaligen Tagebau Niemtsch in den Boden gefressen.

Über 100 Jahre Kohleabbau und jetzt Tourismus
Über hundert Jahre haben sie hier von der Kohle gelebt, Generationen wurden vom Bergbau geprägt. Hoika erzählt, dass jeder hier früher versucht habe, einen Job »in der Kohle« zu bekommen. Bis heute habe er sofort den »chemisch warmen« Geruch der Briketts in der Nase, wenn er an früher denke. Vermissen tut er trotzdem nichts. Schließlich habe er den Kohlestaub nie gut vertragen, ständig hätte sich seine Haut entzündet. »Für mich ist es ein Traum«, sagt er und deutet auf das Ufer des Senftenberger Sees, der am Ende der Promenade schillert, »besser kann man es nicht haben«.
Hier im sogenannten Lausitzer Seenland soll bis zum Ende des Jahrzehnts eines der größten Seengebiete der Republik entstehen. Zu DDR-Zeiten, in den 1970er Jahren wurde begonnen, erste Tagebaue in Badeseen umzuwandeln. Schon heute zählt der örtliche Tourismusverband etwa 930.000 Übernachtungen für das letzte Jahr, fast 50 Prozent mehr als noch vor zehn Jahren. Laut einer Studie des Deutschen Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts für Fremdenverkehr brachten Urlauber rund 265 Millionen Euro Umsatz in die Region.
»Tourismus wird die wirtschaftliche Bedeutung der Kohleindustrie natürlich nicht eins zu eins ersetzen können«, sagt Lukas Hermwille vom Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie. Er ist Co-Leiter des Forschungsbereichs Transformative Industriepolitik und hat zum Strukturwandel in verschiedenen europäischen Regionen geforscht. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts waren mehr als eine halbe Million Menschen in Deutschland in der Kohleindustrie tätig. Lange gehörten Bergleute zu den besser bezahlten Arbeitsgruppen der Industrie. Gerade in der Lausitz und im Mitteldeutschen Revier waren die Abhängigkeiten von der Kohlewirtschaft deshalb lange groß. Doch mit der zunehmenden Mechanisierung und dem Rückgang der Nutzung von Kohle als Energieträger sank die Bedeutung der Kohlewirtschaft, erklärt Hermwille.
Gerade in den östlichen Kohlerevieren, fernab von großen urbanen Zentren, hat der erste Strukturwandel in den 1990er Jahren Generationen ihrer wirtschaftlichen Grundlage beraubt. In der Lausitz etwa wurden nach der Wiedervereinigung viele Tagebaue geschlossen. Die Arbeitslosigkeit lag in manchen Landkreisen bei fast 30 Prozent. Heute ist die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Kohle eher gering. Laut Umweltbundesamt arbeiteten 2015 deutschlandweit nur noch etwas mehr als 20.000 Menschen direkt in der Kohleindustrie. Spätestens 2038 werden die letzten Tagebaue geschlossen. Doch vor allem in strukturschwachen Regionen wie der Lausitz war der Kohleabbau lange ein wichtiger Industriezweig. Die Zahl der Jobs, die heute noch an der Kohle hängen, ist umstritten. Kritiker werfen Kohleunternehmen wie der LEAG, RWE oder MIBRAG vor, die Bedeutung der Kohlewirtschaft künstlich aufzublasen, um von Strukturhilfen und Fördermitteln zu profitieren.