Ein außerirdisches Radiosignal erreicht die Erde und wird nach einigem Ringen entschlüsselt – es entpuppt sich nicht als Botschaft im herkömmlichen Sinn, sondern als genetischer Code. Ein Team von Forscherinnen und Forschern rekonstruiert ihn und setzt damit einen Prozess in Gang, der sich jeder weiteren Kontrolle entzieht: Ein Virus breitet sich in kürzester Zeit über den gesamten Planeten aus und erfasst nahezu die gesamte Menschheit.
Vince Gilligan, der Schöpfer von Erfolgsserien wie Breaking Bad und Better Call Saul, greift dieses vertraute Motiv der Infektion als Gefahr in seiner neuen Serie Pluribus jedoch nicht auf, um es zu bestätigen, sondern um es radikal umzudeuten: Wo in sonstigen Sci-Fi-Visionen ein Virus gemeinhin den Verfall einleitet, Körper deformiert, sie mutieren lässt und etwa in bedrohliche Zombies verwandelt, führt eine Ansteckung in Pluribus zu einem Zustand, den die Befallenen unmissverständlich als »Glück« beschreiben.
Mehr noch: Während Infektionen in Serien wie The Walking Dead oder The Last of Us zum Zerfall der Ordnung führen, Gesellschaften in gewalttätige Fragmente zerfallen lässt, geschieht in Pluribus das genaue Gegenteil: Das Virus macht nicht nur glücklich, sondern aus dem Bewusstsein von über acht Milliarden Menschen eine einzige Einheit. Ein kollektives »Wir«, das nicht nur Zugriff auf sämtliches Wissen aller Infizierten hat, sondern seine einzelnen Mitglieder sogar synchron handeln lässt, und das stets im Sinne des großen Schwarms. Erzählt wird diese globale Transformation durch den Blick einer Einzelnen: Carol (Rhea Seehorn), eine erfolgreiche, aber unzufriedene Autorin, gehört zu einer kleinen Gruppe von 13 Menschen, die gegen das Virus immun sind. Sie sind die letzten verbliebenen Individuen in einer Welt, die sich gerade neu formiert.
Alle sind gleich, niemand ist gleicher
Ob man allein angesichts dieser Vorstellung instinktiv ins Schaudern gerät oder eher ein wohliges Staunen empfindet, sagt womöglich viel über die eigenen ideologischen Standpunkte aus. Und das macht Pluribus so bemerkenswert: Vince Gilligan präsentiert sein Szenario nicht als Warnung mit vorgezeichneter moralisch-ethischer Bewertung, sondern als Denkangebot, als Herausforderung für ein liberales Selbstverständnis, das sich seiner eigenen Überlegenheit allzu sicher wähnt. Auch die politisch-ökonomischen Voraussetzungen des liberalen Individualismus nimmt die Serie in den Blick.
Denn was geschieht etwa, nachdem nahezu die gesamte Menschheit zu einer gedanklichen Einheit verschmolzen ist? Unmittelbar setzen kollektive Wiederaufbauarbeiten ein. Und: Jede und jeder bringt sich ein, unabhängig davon, ob man zuvor Busfahrer, Herzchirurgin oder Bürgermeister von Albuquerque war, jenem Wüstenstädtchen in New Mexico, das Vince Gilligan hier erneut zum Hauptschauplatz macht. Hierarchien, Konkurrenzverhältnisse oder gar Ausbeutung spielen keine Rolle mehr, nur effizient muss alles gestaltet sein. Alle handeln dabei mit Zugriff auf denselben Pool an Fähigkeiten, Wissen und Erfahrung. Der Preis dafür ist nicht etwa Leid von Einzelnen, die dem Gemeinsamen geopfert werden, sondern zunächst der Verzicht auf individuelle Vorrangstellungen.
Im Verlaufe der neun Folgen ist etwa auch zu sehen, dass das Kollektiv eine Krankenhausversorgung gewährleistet, die keinen Unterschied mehr nach ökonomischem Status kennt und allen gleichermaßen die bestmögliche Behandlung zukommen lässt. Insgesamt folgen Versorgung, Fürsorge und Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen nicht länger sozialen oder ökonomischen Rangordnungen, sondern sind entkoppelt von Status, Besitz, und Rhetorik von »Leistung«, die in unserer Realität häufig herangezogen wird, um strukturelle Ungleichheit zu legitimieren und als individuelle Verantwortung umzudeuten.
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