Die Ökonomie beschleunigt unseren Konsum immer weiter. Intensiver und schneller werdende Trendwellen werfen kontinuierlich neue Waren und Lebensstile auf den Markt – und verwerfen sie genauso schnell wieder. Sie versprechen jedes Mal, die innere Leere auf Knopfdruck mit allerlei Angeboten zu füllen. Die Aussicht auf ein schnelles, unkompliziertes Vergnügen der romantischen Art ist seit Jahren der Unique Selling Point von Tinder. Durch geschicktes Marketing unter Studierenden ging die Dating-App 2013 viral. Seitdem ist in vielen westlichen Ländern »Online« vor »Freunden« zur häufigsten Begegnungsart heterosexueller Paare geworden. Tinder disruptierte nicht nur den Verkuppelungsmarkt, sondern ganz grundlegend, wie sich Menschen begegnen.
Mit dem Slogan »SingleNotSorry« zelebrierte das Unternehmen den eigenen Ruf als »hook-up app«, was ihm viele Kritiker auch zum Vorwurf machen. Tinder fördere Oberflächlichkeit über Tiefe, suggeriere unendliche Auswahl und setze damit die Nutzerinnen und Nutzer psychischen Belastungen aus. Während diese Kritik zutrifft, beleuchtet sie nicht, inwiefern Tinder von einem sehr unsentimentalen Ort geprägt wurde: der Börse. Denn Tinder macht die Nutzerinnen und Nutzer zu Spekulanten, die mit kurzfristigen Renditezielen in eine unsichere Zukunft treiben. Und das ist mehr als nur eine Analogie.
Everything, everywhere, all at once
Der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl beschreibt in seinem Buch Kapital und Ressentiment die Einrichtung der ersten elektronischen Börse NASDAQ im Jahr 1971 als den Ursprung der engen Beziehung zwischen Finanz- und Digitalwirtschaft. Was als digitalisierte Preisanzeige im Wertpapierhandel begann, entwickelte sich über die Jahre zu einer eigenständigen Börse, die wiederum das Silicon Valley bevorzugt für seine eigenen Börsengänge nutzte. Darauf folgte zunächst die Dotcom-Blase der späten 1990er Jahre, als der NASDAQ kollabierte und die US-Wirtschaft mit sich runterzog. Viele sprechen bei den Marktwerten für KI-Unternehmen von der nächsten Blase. Am Ende leben Tech-Bros vom konstanten Hype, dem ›next big thing‹, ohne den sie sich niemals so wichtig nehmen würden.
Neben dem Verkauf von Hardware, Software und Dienstleistungen macht die Tech-Branche vor allem mit Nutzerdaten Geld; Daten, mit denen sich Verhalten beobachten, vorhersagen und letztendlich auch steuern lässt. Zum Glück dient das meistens nur dem Zweck, personalisierte Werbung zu schalten. »The best minds of my generation are thinking about how to make people click ads. That sucks« – so brachte ein früher Facebook-Mitarbeiter seine Enttäuschung über das Geschäftsmodell zum Ausdruck. Userdaten wie Suchanfragen und Bewegungsmuster fließen nahtlos weiter in die Rechenzentren der Finanzwirtschaft, die in Echtzeit Ausfallrisiken für alles und jeden einschätzen. Alles ist eingepreist und von Maschinen der liebenden Gnade überwacht.

Neben den wirtschaftlichen Verflechtungen gibt es laut Vogl große inhaltliche Überschneidungen zwischen den Sektoren. Ihnen gemeinsam sei eine Vorliebe für »eine wertschöpfende Vermittlung zwischen Angeboten und Nachfragen aller Art«. Dabei schaffen die Internet-Plattformen »proprietäre Märkte«, in denen sie die Bedingungen diktieren und ordentlich Provision für die Vermittlung verlangen können – wie eine Börse. Zwischen Finanz- und Digitalwirtschaft wurden Märkte für alles geschaffen, was das Herz begehrt und auf Knopfdruck bekommen soll – so auch für romantische Partner.
Der Vorläufer von Tinder war Match.com, das 1995 als eine der ersten Online-Dating-Sites an den Start ging. Zu der Idee kam der Gründer Gary Kremen auf seiner eigenen Partnersuche: »Ich hätte alle Frauen der Welt in einer Datenbank, würde sie nach meinen Kriterien filtern und Nummer Eins heiraten« – romantisch! Laut einem damaligen WIRED-Bericht – mit dem passenden Titel Love and Money – war es das erste Unternehmen, das Paarvermittlung über das Internet zu einem profitablen Geschäftsmodell machte. Es ermöglichte auch Kremens langjähriger Freundin – über seine eigene Plattform! – einen neuen Partner zu finden. Doch trotz dieser Erfolge des Unternehmens haftete ihren Nutzerinnen und Nutzern noch lange Zeit der Geruch der Verzweiflung an. Online-Dating über den Desktop-PC zu Hause war noch uncool.
Hochentzündlicher Zunder
Das änderte Tinder, das 2012 von ehemaligen Studenten der University of Southern California auf deren Campus gestartet wurde. Es kam unverkrampft, unkompliziert und gamifiziert daher – und ließ sich mit dem Smartphone von überall benutzen. Es war eine Ausgründung der mittlerweile marktbeherrschenden Match Group für eine neue, jüngere Zielgruppe. Tinder eliminierte die Angst vor Abweisung und die Magie des Schwärmens gleichermaßen – noch radikaler als zuvor Match.com. Durch gesponserte Events, Mundpropaganda und weiteres Guerilla-Marketing gelang dem Unternehmen ein Durchbruch, der seitdem die Kultur prägt.
Intern war Tinder entzündlich wie eine Streichholzschachtel. »They thought they were going to get laid with it«, sagte Andrew Frame, ein früher Interessent an der Firma. Stattdessen musste der Mitbegründer Justin Mateen Tinder zwei Jahre nach der Gründung aufgrund von Vorwürfen der sexuellen Belästigung verlassen. Ein weiterer Gründer musste in diesem Zusammenhang kurzzeitig zurücktreten. Der Fall Mateen wurde außergerichtlich – ohne Schuldeingeständnis – mit einer Vergleichszahlung von 1 Million Dollar geklärt. Die Beziehung zwischen den Gründern und den Eigentümern der Match Group endete im Rechtsstreit und einer weiteren Vergleichszahlung unter knapp einer halben Milliarde Dollar.
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