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Die drei wichtigsten News der letzten zwei Wochen
1. US-Kartellverfahren: Monopolist Google kommt ungeschoren davon
In einem aktuellen Verfahren in Washington D.C. muss Google zwar künftig bestimmte Daten aus seinem Suchgeschäft mit Wettbewerbern teilen und exklusive Vorinstallierungsverträge verbieten. Doch der populäre Chrome-Browser und das Betriebssystem Android bleiben beim Konzern – eine umfassende Zerschlagung ist vor Gericht abgelehnt worden.
Wichtig, weil: Ein Konzern mit enormer Macht und Reichweite bleibt weitgehend ungebrochen – und es stellt sich die Frage, ob begrenzte Eingriffe ausreichend sind, um Wettbewerb und Datenschutz in der digitalen Infrastruktur zu schützen.
2. Trotz Trump: EU-Gericht räumt Datenverkehr frei
Das EU-Gericht hat eine Klage gegen das sogenannte EU-US-Data-Privacy-Framework abgelehnt. Die 2022 von der EU-Kommission getroffene Feststellung, dass das Datenschutzniveau in den USA »angemessen« sei, bleibt bestehen. Unternehmen dürfen weiterhin persönliche Daten von Europäerinnen und Europäern ohne zusätzliche Auflagen in die USA übertragen.
Wichtig, weil: Schon zwei Vorgänger-Abkommen (Safe Harbor und Privacy Shield) wurden vom EuGH gekippt, weil US-Geheimdienste viel zu weitreichende Zugriffsrechte haben. Das neue Data Privacy Framework ändert daran nichts. Für Bürger und Bürgerinnen in Europa bedeutet das: Ihre Daten landen weiterhin in einem System, das rechtsstaatliche Mindeststandards nicht garantiert.
3. Hamburgs neue Kameras: Überwachung made in China
In Hamburg läuft seit dem 1. September ein KI-Projekt zur Verhaltensanalyse auf öffentlichen Plätzen – mit Kameras des chinesischen Herstellers Hikvision, der für Überwachung von Minderheiten und Menschenrechtsverletzungen kritisiert wird.
Wichtig, weil: Andere Staaten – darunter Großbritannien, Australien und Kanada – haben Hikvision bereits aus Sicherheitsgründen verbannt. Auch die Bundesregierung geht von einer engen Verbindung zwischen chinesischen Unternehmen und Sicherheitsbehörden aus.
Thema der Woche:
»Was auf den Straßen erkämpft wurde, wird nun Gesetz: Die EU stärkt Plattformarbeitende«
»Was auf den Straßen erkämpft wurde, wird nun Gesetz: Die EU stärkt Plattformarbeitende«
Ein Uber-Fahrer in Berlin öffnet am Morgen seine App. Die Aufträge kommen unregelmäßig, der Algorithmus verteilt sie nach Kriterien, die niemand nachvollziehen kann. Mal läuft es, mal sitzt er stundenlang im Wagen und wartet. Offiziell gilt er als Selbstständiger – aber von Selbstbestimmung ist kaum etwas übrig. Er kann die Preise nicht festlegen, er darf nicht frei entscheiden, welche Touren er annimmt, und wenn er zu oft ablehnt, stuft ihn das System nach unten. Arbeitsmittel wie Auto, Sprit und Versicherung trägt er selbst, das Risiko von Krankheit oder Unfall ebenso. Auf dem Papier ein Unternehmer, in der Realität abhängig beschäftigt.
Genau hier liegt das strukturelle Problem. Plattformen wie Uber umgehen die Pflichten eines Arbeitgebers, indem sie ihre Fahrer und Fahrerinnen als Selbstständige einstufen. Das bedeutet: keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, keine Sozialversicherung, kein Kündigungsschutz. Diese Konstruktion spart den Plattformen Kosten, doch schadet jenen, die jeden Tag arbeiten. Auch bei anderen Plattformen wie Lieferando oder Wolt ist der Algorithmus ein Machtinstrument zur Disziplinierung und Ausbeutung von Arbeitenden.
Viele Uber-Fahrer und -Fahrerinnen haben versucht, sich mit dieser Unsicherheit zu arrangieren. Manche fahren Schichten von zwölf Stunden, um auf ein existenzsicherndes Einkommen zu kommen. Andere schließen sich in WhatsApp-Gruppen zusammen, um Informationen auszutauschen, etwa, wie man Sperrungen umgeht oder welche Methoden helfen, den Algorithmus auszutricksen. Doch es regt sich auch Widerstand gegen die Plattformunternehmen. In Berlin demonstrierten letzten Monat Rider, die über Subunternehmer für Wolt arbeiteten, gegen monatelang ausstehende Lohnzahlungen. Denn ihre Arbeitsrealität war ein ständiger Balanceakt: flexibel genug, um Aufträge zu bekommen, aber gleichzeitig ständig bedroht, die Grundlage ihrer Arbeit zu verlieren. Ihr Kampf machte sichtbar, was in der Plattformökonomie oft verborgen bleibt: Es geht nicht nur um Flexibilität, sondern um die Frage, wer im digitalen Kapitalismus eigentlich Verantwortung trägt – die Plattform oder der Einzelne.
Genau an diesem Punkt setzt die neue EU-Plattformarbeit-Richtlinie an.
Künftig gilt: Wer wie ein Angestellter behandelt wird, ist auch einer. Damit erhalten Fahrer und Fahrerinnen Zugang zu Sozialversicherung, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und mehr Schutz bei Kündigungen. Auch der digitale Alltag verändert sich: Algorithmen dürfen nicht mehr im Alleingang über Aufträge oder Sperrungen entscheiden. Jede Maßnahme braucht eine nachvollziehbare Begründung und die Möglichkeit zum Einspruch. Das neue Gesetz nimmt Fahrer, Fahrerinnen und Rider also nicht nur aus der Unsichtbarkeit heraus, sondern gibt ihnen Rechte, die bislang hinter dem Etikett »Selbstständigkeit« verborgen blieben.
Besonders spannend ist die Umkehr der Beweislast. Bislang mussten Beschäftigte mühsam vor Gericht beweisen, dass sie nicht selbstständig sind. Künftig müssen die Plattformen darlegen, warum sie es doch sein sollen. Ein scheinbar technischer Punkt, der aber die Machtverhältnisse verschiebt.
Die Gesetzesinitiative wurde nach längeren Verhandlungen zwischen EU-Parlament und Ministerrat im Februar 2024 als Kompromiss beschlossen. Dabei wurden Plattformen und Rider-Aktivistinnen und -Aktivisten gleichermaßen in den Prozess eingebunden. Die Richtlinie betrifft rund 28 Millionen Menschen, die in der EU über Plattformen arbeiten – von Fahrern und Fahrerinnen über Lieferdienste bis hin zu Haus- und Reinigungsdiensten. Brüssel schätzt, dass davon etwa 5,5 Millionen fälschlicherweise als Selbstständige geführt werden und künftig Anspruch auf einen regulären Beschäftigtenstatus haben könnten.
Mehr als ein Sonderfall
Plattformarbeit wirkt auf den ersten Blick wie ein Nischenphänomen, ein Randthema der Arbeitswelt. In Wirklichkeit ist sie ein Labor für das, was den Arbeitsmarkt insgesamt prägt. Risiken werden ausgelagert, Verantwortung verschoben, Kontrolle durch Software organisiert. Viele der Probleme, die hier sichtbar werden – vorenthaltene Löhne, Verhinderung von Mitbestimmung, unbezahlte Überstunden oder verweigerter Urlaub – gibt es auch jenseits der Plattformwirtschaft. Sie sind Ausdruck einer allgemeinen Tendenz: Arbeitsverhältnisse werden flexibilisiert, bis am Ende die Beschäftigten die Kosten tragen.
Die neue Richtlinie kann also Missstände in der Plattformökonomie erschweren, aber sie wird sie nicht aus der Welt schaffen. Was sie liefert, ist ein Werkzeugkasten – nutzen müssen ihn Beschäftigte, Gewerkschaften und Gerichte. Bei Lieferando sind Fahrer und Fahrerinnen beispielsweise zwar offiziell angestellt, doch auch dort entscheidet der Algorithmus über Schichten und Leistung. Bei Gorillas prägten anfangs kurze Verträge und Subunternehmer die Arbeitspraxis, bis gewerkschaftlicher Druck Korrekturen erzwang. Uber ist damit nur ein drastisches Beispiel – nicht, weil es einzigartig wäre, sondern weil es offenlegt, was längst auch in anderen Branchen passiert.
Plattformarbeit ist damit kein Sonderfall, sondern ein Prototyp. Sie zeigt, wie weit Arbeitgeber gehen, wenn Regulierung fehlt, und wie stark die Machtverschiebung von Arbeit zu Kapital im digitalen Kapitalismus vorangeschritten ist. Hier geht es nicht nur um Apps und Algorithmen, sondern um den gesamten Arbeitsmarkt. Wenn es gelingt, hier Standards durchzusetzen, kann das auch ein Signal in andere Branchen sein. Wenn nicht, bleibt die Gefahr, dass Flexibilität erneut zur Einladung für Prekarität wird.
Warum das ein Sieg ist – und was bleibt
Die Richtlinie ist ein Sieg für Fahrer und Fahrerinnen, weil sie konkrete Rechte bringt: Planbarkeit, Schutz im Krankheitsfall, soziale Absicherung, die Möglichkeit, sich gegen algorithmische Willkür zu wehren. Sie ist aber auch ein Sieg für die Demokratie, weil sie zeigt: Digitale Arbeit bleibt regulierbar.
Doch offene Fragen bleiben. Können Subunternehmerketten tatsächlich verhindert werden? Wird die Richtlinie in allen Mitgliedstaaten gleich konsequent umgesetzt? Und haben Behörden überhaupt genug Ressourcen, Verstöße zu verfolgen? Ohne Kontrolle droht das wirkungslos zu bleiben.
Cliffhanger der Woche
Amazon droht Megaklage
Ein US-Richter hat eine landesweite Sammelklage zugelassen: Rund 288 Millionen Käufer könnten Amazon wegen überhöhter Preise durch
Drittanbieter-Verträge verklagen. Der Prozess könnte zu einem der größten Verbraucherverfahren gegen einen Tech-Konzern in der US-Geschichte werden.
Bis zur nächsten Woche,
Aya Jaff