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Tooze: Mord statt »Krise« – Israels Blockade Gazas ist eine globale Ausnahme

Politik und Medien reden von einer »Krise«. Die Geschichte und das aktuelle Ausmaß zeigen, dass Israel den Hunger absichtlich als politische Waffe nutzt.

7 Minuten Lesedauer
In Gaza gibt es kaum noch Essen und die Hilfslieferungen sind ungenügend. Credit: IMAGO/Anadolu Agency

Seit vielen Monaten steht außer Zweifel, dass die israelische Regierung, das israelische Militär, Teile der israelischen Politik und Gesellschaft sowie ihre Helfer und Komplizen im Ausland die Bevölkerung von Gaza bewusst hungern lassen, um sie zur Flucht zu zwingen oder sie in immer größeres Elend und schließlich in einen qualvollen Tod zu treiben. Es gibt eindeutige Beweise für eine vorsätzliche Absicht, die bis ins Jahr 2023 zurückreicht. Dies rechtfertigt eindeutig den Vorwurf des Völkermords.

Diejenigen, die sich als »Verteidiger Israels« bezeichnen, werden schnell darauf verweisen, dass es in Gaza tatsächlich Operationen zur Nahrungsversorgung gibt. Aber wie der Hungersnot-Historiker und Hilfsexperte Alex de Waal in einem eindrucksvollen Artikel im Guardian zeigt, »sind Israels Lebensmittelausgabestellen nicht nur Todesfallen – sie sind ein Alibi ... Das System der Gaza Humanitarian Foundation ist wie am Rand eines großen Teiches zu stehen und die (hungernden) Fische mit Brotkrumen zu füttern. Wer bekommt die Rationen?« Luftabwürfe von Lebensmitteln sind nur mehr vom Gleichen. Ethnische Säuberung durch Aushungern ist die eigentliche Politik.

Alex de Waal: Mass Starvation

The History and Future of Famine. Januar 2018, Wiley.

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Wer sich für die Geschichte der Hungersnot als politische Waffe interessiert, sollte sich mit de Waals erschütternder Darstellung dieses Themas befassen. Wie er zeigt, wurde die absichtliche Aushungerung, die im Mittelpunkt von Raphael Lemkins ursprünglicher Diskussion über Völkermord stand und die aus der Nazi-Besetzung Polens in den 1940er Jahren hervorging, in unserem Verständnis der Schrecken des 20. Jahrhunderts später marginalisiert.

Als ich mich entschloss, mich aus meinem asiatischen Kokon zu befreien und diesen Artikel zu schreiben, hatte ich zunächst vor, etwas »Historisches« auf der Grundlage von de Waals Buch zu schreiben. Ich habe jedoch schnell gemerkt, dass ich momentan nicht den Magen für solche Geschichten habe. Dies ist nicht der richtige Moment für hochgestochene Diskussionen über die Politik historischer Vergleiche. Bleiben wir lieber bei der Gewalt hier und jetzt.

Die Gleichzeitigkeit von Hungersnöten

Um einem weiteren Einwand vorzugreifen, der häufig zur »Verteidigung« Israels vorgebracht wird: Natürlich ist Gaza nicht der einzige Ort auf der Welt, an dem Menschen im Sommer 2025 leiden und hungern. Es ist auch nicht der einzige Ort, an dem Hunger als politische Waffe eingesetzt wird. Wenn Sie schon einmal an derartigen Diskussionen teilgenommen haben, kennen Sie die Gegenargumentation: »Kritisieren Sie Israel nicht, erwähnen Sie nicht einmal die kriminelle Politik der Regierung, es sei denn, Sie sind auch bereit, über die Gräueltaten zu sprechen, die anderswo begangen werden.«

Das ist verwirrend, weil Israel häufig einen Sonderstatus für sich beansprucht, insbesondere aufgrund seiner Entstehung nach dem Holocaust, dessen Einzigartigkeit ebenfalls nachdrücklich betont wird. Aber lassen wir diese verwirrende und böswillige Diskussion beiseite und stellen wir uns der Herausforderung, die Kritik zu generalisieren. Betrachten wir die Politik der israelischen Regierung in Gaza vor dem Hintergrund des weltweiten Elends, der Kriege und des Hungers in der heutigen Zeit.

Wer sich ernsthaft für diese Frage interessiert und nicht nur Verwirrung stiften will, kann sich die Übersicht über »Hunger-Hotspots« weltweit ansehen, die die UN-FAO und das Welternährungsprogramm freundlicherweise zusammengestellt haben. Eine Karte zeigt die weltweit für den Sommer 2025 erwarteten akuten Hungersnöte. Das Schreckliche daran: Weltweit sind in diesem Sommer etwa 152 Millionen Menschen außerhalb des Gazastreifens von Hunger und Hungersnot bedroht. Die überwiegende Mehrheit davon lebt in Subsahara-Afrika. Myanmar ist der einzige große Krisenherd in Asien.

Quelle: UN-FAO und WFP

Der gemeinsame Nenner all dieser Leidensgebiete ist bewaffnete Gewalt. Die FAO/WFP formuliert es folgendermaßen:

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Adam Tooze

Adam Tooze ist Herausgeber von Surplus und Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Columbia University in New York.

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