Fernab von Infinity-Pools und Wüsten-Retreats zieht sich das längste Förderband der Welt durch die Sahara. Es transportiert Phosphat – ein Rohstoff, der in der globalen Ernährungsindustrie als Schlüsselbestandteil moderner Mineraldünger unverzichtbar geworden ist. Doch nicht nur der Wüstenboden der von Marokko beanspruchten Westsahara, auch das Meer vor der Küste hält Begehrtes: Die Gewässer gehören zu den fischreichsten der Welt und sind für europäische Staaten ebenso attraktiv wie die Minen im Landesinneren. Über die Jahre entstand daher ein verwobenes Netz an Handelsbeziehungen zwischen Brüssel und Rabat, das Phosphate sowie Agrar- und Fischereiprodukte umfasst.
Doch im Hintergrund entbrannte ein Rechtsstreit: Immer wieder musste sich der Europäische Gerichtshof mit der Rechtmäßigkeit des Handelsabkommens beschäftigen. Zuletzt erklärte er 2024 den für die Europäische Union und Marokko lukrativen Handel für rechtswidrig, denn die Schätze der Westsahara gehören völkerrechtlich nicht Marokko, sondern der indigenen Bevölkerung der Westsahara. Im Oktober dieses Jahres wagte die EU-Kommission einen erneuten Vorstoß, um die Ressourcen der Westsahara für europäische Unternehmen zu nutzen. Er wirft eine grundsätzliche Frage auf: Wie hält es die Europäische Union mit den Rechten indigener Bevölkerungen, wenn wirtschaftliche Interessen mit dem Völkerrecht kollidieren?
Die Westsahara – Ein Produkt fehlgeschlagener Dekolonialisierung
Die Geschichte der Westsahara ist die Geschichte einer fehlgeschlagenen Kolonialpolitik. Bis in die 1970er Jahre stand das Gebiet unter spanischer Kolonialherrschaft. Als die Welle der Dekolonialisierung auch die Sahara erreichte, war ein Referendum über die Unabhängigkeit des Gebiets bereits geplant. Abstimmen sollten die Sahrawis, ein arabisch-berberisches Volk nomadischer Herkunft mit eigener Kultur und Sprache, das die Wüstenlandschaft seit Jahrhunderten bewohnt.
Doch die Abstimmung wurde im selben Jahr durch den »Grünen Marsch« des marokkanischen Königs Hassan II. zunichtegemacht: Hunderttausende Zivilistinnen und Zivilisten aus Marokko überquerten die Grenze, um den Anspruch des Königreichs symbolisch zu besiegeln. Gleichzeitig wurden Teile der indigenen Bevölkerung in das benachbarte Algerien vertrieben. Obwohl der Internationale Gerichtshof damals festhielt, dass keine historischen Ansprüche Marokkos auf das Gebiet bestehen, folgte darauf keine politische Konsequenz. Aus dem geplanten Selbstbestimmungsprozess wurde ein offener Territorialkonflikt. Heute leben in der Westsahara mehr Marokkaner als Sahrawis, letztere machen nur noch schätzungsweise zehn bis dreißig Prozent der Bevölkerung aus.
Doch rechtlich gilt weiterhin: Völker verfügen über ihre natürlichen Ressourcen selbst. Die Ressourcen der Westsahara stehen daher alleine dem Volk der Sahrawis und nicht dem marokkanischen Staat zu. Und trotzdem: Die Handelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Marokko umfassen in großen Teilen natürliche Ressourcen der Westsahara.
Ein Deutungskampf vor dem Europäischen Gerichtshof
Im November 2012 reichte die militärische und politische Unabhägigkeitsorganisation der Sahrawis, Frente Polisario, – von der UNO bis heute als Vertreterin des sahrawischen Volkes anerkannt – beim Europäischen Gerichtshof Klage ein, um die Aussetzung des Freihandelsabkommens für landwirtschaftliche Güter und Fischereierzeugnisse zwischen Marokko und der EU zu erwirken. Die Frente Polisario verurteilte ausdrücklich die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen des Gebiets und betonte, dass die reichen Vorkommen der Westsahara nicht ohne die Zustimmung des sahrawischen Volkes genutzt werden dürften.
Der Europäische Gerichtshof gab den sahrawischen Vertretern in einem jahrelangen Rechtsstreit wiederholt recht. Zuletzt stellte das Gericht 2024 fest, die EU könne ohne die Zustimmung der Sahrawis kein Abkommen mit Marokko bezüglich der Westsahara abschließen. Doch der Europäische Gerichtshof ließ der EU eine Hintertür offen: Zwar sei die Frente Polisario berechtigt, die Interessen des sahrawischen Volkes vor Gericht zu vertreten. Sie sei aber – im Gegensatz zur Auffassung der UNO – kein legitime Vertretung der Sahrawis an sich. Aus der fehlenden international anerkannten Vertretung folgerte das Gericht dann, dass eine vermutete Zustimmung ausreiche – vorausgesetzt, ein neues Handelsabkommen benachteilige die Sahrawis nicht und bringe ihnen einen nachweisbaren Vorteil aus der Nutzung ihrer Ressourcen. Mit anderen Worten: Beschlüsse, die im Interesse der Sahrawis liegen, gelten rechtlich so, als hätte das Volk selbst zugestimmt.
