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Das Wirtschaftsmagazin

Der Sozialstaat hält auch die Wirtschaft am Laufen

Die Bundesregierung hält den Sozialstaat für »nicht finanzierbar«. Dabei ist er notwendige Voraussetzung einer hochproduktiven Wirtschaft.

6 Minuten Lesedauer

Friedrich Merz und Carsten Linnemann (beide CDU) halten den Sozialstaat nur für einen Kostenfaktor. Credit: IMAGO/dts Nachrichtenagentur

Die deutschen Gewerkschaften haben nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich dazu beigetragen, den Sozialstaat aufzubauen und weiterzuentwickeln. Da der Kapitalismus auf parlamentarischem Weg nicht überwunden werden konnte, sollte er zumindest politisch gezähmt werden. Der Sozialstaat soll ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit für alle ermöglichen. Er stärkt den sozialen Zusammenhalt, fördert die wirtschaftliche Entwicklung und festigt unsere Demokratie. 

Klassenkampf von oben

Heute steht der Sozialstaat massiv unter Druck. Wirtschafts- und Unternehmensverbände sowie marktradikale Politikerinnen und Ökonominnen führen einen ideologischen Klassenkampf von oben. Dulger, Fuest, Linnemann & Co. behaupten, dass der Sozialstaat die Wirtschaftskraft schwäche. Sie verunglimpfen ihn als unproduktiven Kostgänger der Wirtschaft. Steigende Sozialausgaben, hohe Beiträge und Steuern sowie ein vermeintlich wirtschaftsfeindliches Arbeitsrecht gefährden angeblich den Wohlstand. Die aktuelle Wachstumsschwäche sei Ausdruck eines aufgeblähten Sozialstaats, so die Behauptung. Deswegen müsse das Management teure und unprofitable heimische Standorte schließen und ins Ausland abwandern. Kanzler Merz redet Klartext: »Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar.« Nur sogenannte Strukturreformen – sprich Sozialabbau – könnten der Wirtschaft wieder auf die Beine helfen. 

Diese interessensgeleitete Erzählung zeichnet ein Zerrbild der Wirklichkeit. Tatsächlich leidet die deutsche Wirtschaft heute nicht unter dem Sozialstaat, sondern unter einer ausgeprägten Konsum- und Exportschwäche sowie unter den Folgen der Energiekrise und einer maroden Infrastruktur. Die längste wirtschaftliche Stagnation der Republik hat mit vermeintlich hohen Sozialstaatskosten nichts zu tun. Niveau und Entwicklung des deutschen Sozialstaats sind sowohl im Zeitverlauf als auch im internationalen Vergleich unauffällig. Die Sozialleistungsquote – der Anteil der Sozialausgaben am Sozialprodukt – stieg in den letzten 25 Jahren nur geringfügig. Sie ist heute sogar niedriger als im Jahr 2020. Darüber hinaus wuchsen die deutschen Sozialausgaben seit 2000 deutlich langsamer als in der überwiegenden Zahl der Industrieländer. Die gesamte Beitragslast der Sozialversicherungen – Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge – beläuft sich heute auf 42,5 Prozent des Bruttoeinkommens. Dies entspricht dem Niveau der 2000er Jahre. Die Steuerquote – Anteil der Steuereinnahmen am Sozialprodukt – ist mit 23,1 Prozent niedriger als zu Beginn des Jahrtausends. Die Steuerbelastung der reichsten 20 Prozent ist dank steuerpolitischer Reichtumspflege seit Anfang des Jahrtausends gesunken. Am stärksten fiel die Steuerlast der Superreichen

Die deutsche Wirtschaft liegt nicht auf der Intensivstation. Trotz Wachstumsschwäche hat unsere Volkswirtschaft einen Export- und Leistungsbilanzüberschuss. Deutschland ist langjähriger Exporteuropameister und die weltweit drittgrößte Exportnation. Zur Wahrheit gehört aber auch: Trumps jüngster Handelskrieg und Pekings erfolgreiche industrielle Modernisierung werden das exportabhängige deutsche Geschäftsmodell stressen. 

Die deutschen Lohnstückkosten – das Verhältnis von Arbeitskosten zu gesamtwirtschaftlicher Produktivität – stiegen seit 2000 schwächer als im Euroraum. Folglich verbesserte sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gegenüber ihren europäischen Nachbarn. Erwerbstätigkeit und Arbeitsvolumen – die Zahl der bezahlten Arbeitsstunden – sind auf einem Rekordniveau. Zwischen Berlin und München wird so viel gearbeitet, wie noch nie zuvor. Kurzum: Der Befund einer schwerkranken, nicht mehr konkurrenzfähigen deutschen Wirtschaft ist eine krasse Fehldiagnose. 

Die Wirtschaftslobby redet den Standort Deutschland bewusst schlecht, um Mehrheiten für einen neoliberalen Um- und Abbau des Sozialstaats zu gewinnen. Deswegen überbieten sich Unionspolitiker und Verbändefunktionäre tagtäglich mit neuen Kürzungsvorschlägen. Auf der neoliberalen Wunschliste stehen die Rente mit 70, ein Sozialabgaben-Deckel, die Abschaffung der Pflegestufe I, mehr Eigenbeteiligung, weniger Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und längere Arbeitszeiten ganz weit oben. 

Zweifelsohne sind Sozialausgaben immer auch Kosten, die aus der Wertschöpfung einer Nationalökonomie finanziert werden müssen. Der Sozialstaat ist aber auch Produktivkraft. Sozialpolitische Maßnahmen stärken die Wirtschaftskraft. Der Sozialstaat korrigiert die Verteilung des Sozialproduktes und greift in dessen Entstehung und Verwendung ein. Wertschöpfung und Sozialstaat beeinflussen sich wechselseitig. Der populäre liberale Leitsatz, dass nur verteilt werden kann, was vorher erwirtschaftet wurde, ist falsch. Schließlich hängt das, was erwirtschaftet werden kann, von den Angebots- und Produktionsbedingungen sowie den Verteilungsverhältnissen einer Volkswirtschaft ab, die der Sozialstaat maßgeblich mitgestaltet. 

Konkret stärkt der Sozialstaat die wirtschaftliche Entwicklung durch arbeitnehmerfreundliche Regeln auf dem Arbeitsmarkt, ein leistungsfähiges Bildungs- und Gesundheitswesen, eine gute Daseinsvorsorge und Infrastruktur, eine umverteilende Steuerpolitik, eine armutsfeste und lebensstandardsichernde soziale Sicherung, eine antizyklische Finanzpolitik sowie eine sozial-ökologische Industrie- und Dienstleistungspolitik. 

Der Sozialstaat stärkt Beschäftigte

Das Regelwerk des Arbeitsmarktes ist ein Kernbereich des Sozialstaats. Mindestlöhne, Tarifverträge, sozialversicherte Jobs, Kündigungsschutz sowie hohe Lohnersatzleistungen verbessern die Verwertungsbedingungen der Ware Arbeitskraft. Eine stärkere Verhandlungsmacht der Beschäftigten ermöglicht kräftige Lohnzuwächse und belebt den privaten Konsum, die Binnennachfrage und die Arbeitsproduktivität.

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Dierk Hirschel

Dierk Hirschel ist ver.di-Chefökonom.

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