Das Auswerten sozialwissenschaftlicher Forschung ist nicht immer eine Freude. Die hohe Informationsdichte, die komplexen statistischen Modelle und die hölzerne Ausdrucksweise akademischer Publikationen machen sie oft schwer verständlich. Umso bemerkenswerter sind dann die Studien, in denen der Untersuchungsgegenstand, die Fragestellung und Methoden so gut aufeinander abgestimmt sind, dass sie sich wie ein Krimi lesen. Without Roots von Simone Cremaschi, Nicola Bariletto und Catherine E. De Vries der Universitäten Bocconi (Mailand) und Texas (Austin) ist ein solches Paper.
Die Forscherinnen und Forscher untersuchen in dem in der Fachzeitschrift American Political Science Review erschienenen Paper die politischen Folgen des großen Olivenbaumsterbens in Apulien, am Stiefelabsatz Italiens. Die riesigen und teils uralten Olivenhaine wurden Opfer des ersten Ausbruchs des »Feuerbakteriums« Xylella fastidiosa auf dem europäischen Kontinent ab dem Jahr 2013. Dieses invasive Bakterium gelangte wenige Jahre zuvor über eine Kaffeepflanze aus Costa Rica in den Hafen von Gallipoli und konnte sich zunächst unerkannt ausbreiten. Es wird vor allem von Zikaden übertragen und befällt das Wasserleitsystem der Pflanzen, was letztendlich zu ihrer Vertrocknung innerhalb von 5 Jahren führt. Noch gab und gibt es kein Gegenmittel, also müssen die infizierten Bäume und alle anderen – auch gesunde Pflanzen – in einem Umkreis von 100 Meter vernichtet werden.
Die Dimensionen sind enorm: Seit dem ersten Ausbruch wurden 8.000 Quadratkilometer Anbaufläche beziehungsweise 21 Millionen Bäume in der Region von dem Schädling befallen, der sich auch im weiteren Mittelmeerraum ausbreitet. Damit entstand bisher ein geschätzter wirtschaftlicher Schaden von drei Milliarden Euro mit einem Ausfall von 600.000 Arbeitstagen. Neben Dürren und Waldbränden im Mittelmeerraum ist Xylella fastidiosa ein wesentlicher Grund für den dramatischen Preisanstieg von Olivenöl um 78 Prozent seit 2020. Apulien produzierte vor der Epidemie an erster Stelle 40 Prozent des italienischen Olivenöls, gefolgt von Kalabrien (20 Prozent) und Sizilien (11 Prozent).
Ihre politische Brisanz erhielt die ökologische Katastrophe wegen der Bedeutung der Olivenbäume für die Region sowie des Versagens der Behörden. Letztere wurden für ihre späte, ungenügende Reaktion von der EU-Kommission verklagt und 2019 vom Europäischen Gerichtshof verurteilt. Das Olivenbaumsterben war ein kollektiver Schock nicht nur für die Landwirtschaft und den Tourismus, sondern auch für die regionale Identität. Die Verunsicherung war anfangs so groß, dass die Krankheit geleugnet wurde und Menschen auf die Bäume stiegen, die gefällt werden sollten. Verschwörungserzählungen kursierten und es wurden sogar Ermittlungen gegen Wissenschaftlerinnen aufgenommen, die mit der Überwachung der Krankheit beauftragt waren. Ihnen wurde vorgeworfen, den Schädling in die Umwelt gesetzt zu haben.
Gemischte Methoden für zusätzlichen Erkenntnisgewinn
Cremaschi et al. nutzen in ihrer Studie eine innovative Mischung quantitativer und qualitativer Methoden, um diesen Fall zu untersuchen. Das ermöglicht es ihnen, sowohl statistisch belastbare Aussagen über den Verlauf der Pflanzenkrankheit und ihren Einfluss auf die Politik zu treffen, als auch durch Interviews die Narrative aufzudecken, mit denen die Bewohnerinnen und Bewohner der Region dieser Krise Bedeutung zugeschrieben haben. Erst anhand der objektiven Fakten und der intersubjektiven Wahrnehmung des Olivenbaumsterbens erschließt sich die ganze Dramatik, die sich zwischen Natur, Kultur und Politik abspielt.
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