Die besetzten palästinensischen Gebiete bewegen sich auf eine der schwersten ökonomischen Krisen der Nachkriegszeit zu. Laut einem neuen Bericht der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) ist die Wirtschaftsleistung in der Region 2024 extrem abgestürzt. Das Bruttoinlandsprodukt lag nur noch bei 70 Prozent des Werts von 2022, das Pro-Kopf-Einkommen sank um 33 Prozent. Innerhalb von lediglich 15 Monaten fiel die gesamtwirtschaftliche Leistung damit auf den Stand von 2010 zurück, während das durchschnittliche Einkommen der Bevölkerung auf das Niveau von 2003 abrutschte.
Die Arbeitslosigkeit in Gaza stieg auf 80 Prozent, im Westjordanland auf 35 Prozent – selbst im »funktionierenden« Teil Palästinas herrscht damit ein Beschäftigungsniveau, das unter dem Niveau in Deutschland zu Zeiten der Großen Depression liegt. Parallel dazu stiegen die Verbraucherpreise 2024 um 54 Prozent. Der Preisschub traf vor allem Lebensmittel, Energie, Transport und Wohnen – also genau jene Bereiche, die für einkommensschwache Haushalte am stärksten ins Gewicht fallen. Auch der langfristige Entwicklungsstand erodiert: Der Human Development Index, der über Jahrzehnte mühsam und langsam stieg, fällt UN-Prognosen zufolge von 0,716 (2022) auf 0,643 im Jahr 2024. Damit gehen 25 Jahre des sozialen Fortschritts verloren.
Die Kombination aus der flächendeckenden militärischen Zerstörung Gazas durch das israelische Militär, den umfassenden Zugangs- und Bewegungsbeschränkungen im Westjordanland sowie der anhaltenden Beschädigung palästinensischer Infrastrukturen durch gewalttätige israelische Siedler hat die Krise in Palästina auch zu einer der schlimmsten Wirtschaftskrisen der Nachkriegszeit gemacht. Tatsächlich, so stellt die UNCTAD fest, handelt es sich bei dem Zusammenbruch der palästinensischen Wirtschaft um einen der gravierendsten Wirtschaftseinbrüche der Welt seit Beginn systematischer Erhebungen in den 1960er-Jahren.
Der Zusammenbruch betrifft sämtliche Facetten der Wirtschaft: öffentliche Dienstleistungen, private Unternehmen, Banken, Infrastruktur, Arbeitsmärkte und soziale Sicherungssysteme gleichermaßen. Wirtschaftliche Sektoren, die vorher ohnehin unter struktureller Schwäche litten, sind mittlerweile weitgehend funktionslos. Die Geschwindigkeit des Absturzes übertrifft die meisten bisherigen Krisen weltweit.
Gaza: Eine Ökonomie, die faktisch aufgehört hat zu existieren
Der härteste Einschnitt betrifft den Gazastreifen. Die Region war bereits vor dem 7. Oktober 2023 durch 57 Jahre Besatzung und 17 Jahre Blockade sowie die damit einhergehende eingeschränkte Einfuhr von Gütern und wiederkehrende militärische Angriffe wirtschaftlich ausgedünnt. Das Pro-Kopf-Einkommen lag mit 1.250 US-Dollar 2022 unter dem Niveau von Regionen wie dem subsaharischen Afrika. 80 Prozent der Bevölkerung waren von internationalen Hilfslieferungen abhängig. Die militärische Eskalation Israels der vergangenen zwei Jahre hat die Strukturen der fragilen Wirtschaft vollends zerstört.
2024 sank Gazas BIP um 83 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das Pro-Kopf-BIP stürzte auf 161 US-Dollar und betrug damit lediglich 6,4 Prozent des Niveaus von 2005. Global gehören die Menschen in Gaza damit zu den Ärmsten der Welt. Die Inflation belief sich auf 238 Prozent, was einer Versorgungslage geschuldet war, in der nur ein geringer Teil der benötigten humanitären und kommerziellen Güter Gaza erreichte. Die gesamte Bevölkerung lebt laut UN unterhalb der Armutsgrenze.
Die physischen Schäden übertreffen jedes bisher dokumentierte Szenario: Bis April 2025 waren 174.513 Gebäude beschädigt – rund 70 Prozent des gesamten Bestands. Etwa 40 Prozent davon gelten als vollständig zerstört. Daten zur nächtlichen Lichtemission zeigen einen Rückgang von 73 Prozent. Nahezu der gesamte Streifen, mit einer dünnen Ausnahme im Norden und Süden, liegt in vollständiger Dunkelheit, sobald die Nacht hereinbricht. Schätzungen des Human Development Index zufolge sind mehr als 69 Jahre menschlicher Entwicklung verlorengegangen. 658.000 Kinder und 87.000 Studenten haben keinen Zugang zu Bildung mehr. 88 Prozent der Schulen müssen vollständig wiedererrichtet werden. Ein solches Krisenausmaß übersteigt alles, was bisher gemessen wurde (die Datengrundlage bildete das schwedische Uppsala-Conflict-Data-Programme).
Selbst unter günstigen Annahmen – mehrjährige zweistellige Wachstumsraten, hohe externe Finanzhilfen, sofortiger Wiederaufbau – würde es Jahrzehnte dauern, bis Gaza wieder das schon niedrige Wohlstandsniveau von 2023 erreicht. Der geschätzte Wiederaufbaubedarf übersteigt 70 Milliarden US-Dollar.
Westjordanland: Schrumpfung im Schatten der Gewalt in Gaza
Auch im Westjordanland zeigt sich ein tiefgreifender ökonomischer Rückgang. Die Wirtschaftsleistung sank 2024 um 17 Prozent, das Pro-Kopf-BIP um knapp 19 Prozent. Damit fallen zentrale Indikatoren auf das Niveau von 2008 zurück. Die Ursachen sind in den Arbeiten der internationalen Organisationen wie der Weltbank, dem IWF und der UNO zufolge einfach zu identifizieren: verschärfte Bewegungsbeschränkungen, eine rapide Zunahme von Kontrollen und Straßensperren sowie der Ausschluss palästinensischer Arbeitskräfte vom israelischen Arbeitsmarkt.
Rund 849 Checkpoints, Straßensperren und andere Barrieren zerstückeln die ökonomische Landschaft und behindern die Bewegungsfreiheit von 3,3 Millionen Menschen. Der Zugang zu Land und Rohstoffen (allen voran Wasser für die Landwirtschaft) bleibt massiv eingeschränkt, insbesondere in der von Israel kontrollierten Zone C, die über 60 Prozent des Territoriums umfasst. In weiten Teilen dieser Region ist die wirtschaftliche Tätigkeit palästinensischer Unternehmen faktisch verunmöglicht. Im Gegensatz dazu floriert die Wirtschaft in den völkerrechtlich illegalen Siedlungen im Westjordanland sowie im besetzten Ostjerusalem. Die dortige wirtschaftliche Aktivität lag zwischen 2000 und 2024 kumuliert bei rund 832 Milliarden US-Dollar (in 2015 US-Dollar). Pro Jahr entspricht dies mittlerweile über 50 Milliarden US-Dollar – nahezu das Fünffachen der palästinensischen Wirtschaftsleistung des Jahres 2024.
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