»Alternativlos« – so bezeichnete der Chef der Europäischen Volkspartei (EVP) Manfred Weber im Frühjahr Europas Aufrüstungskurs. Mit dieser Sichtweise ist er nicht allein. Im Anschluss an den russischen Angriff auf die Ukraine hat sich in den politischen Eliten Europas ein Konsens für eine massive Aufrüstung gebildet, der seither umgesetzt wird. Der letzte Ausdruck davon ist, dass die Ausgaben der EU für Verteidigung und Sicherheit der EU im nächsten mehrjährigen Finanzrahmen verfünffacht werden sollen – zusätzlich zu den nationalen Mitteln der Mitgliedstaaten. Eine Grundsatzentscheidung des Europäischen Rates dazu soll im Dezember fallen.
All das geschieht ohne eine breite demokratische Debatte über das Ob und Wie einer Aufrüstung. Nicht zuletzt aus sozialen und ökologischen Gesichtspunkten scheint es dringender denn je, die behauptete Alternativlosigkeit der Aufrüstung einem gründlichen Realitätscheck zu unterziehen.
Erstens. Die EU ist Russland wirtschaftlich, industriell und militärisch bereits heute deutlich überlegen. Das kumulierte Bruttoinlandsprodukt ihrer Mitgliedsstaaten ist mit 19,4 Billionen US-Dollar mehr als neunmal so groß wie jenes Russlands (2,17 Billionen US-Dollar). Etwas geringer, aber immer noch stark ausgeprägt, ist der Vorsprung bei den Rüstungsausgaben: Laut der Studie Trends in World Military Expenditure des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) vom April 2025 gaben die europäischen NATO-Staaten im Vorjahr mehr als dreimal so viel für Rüstung aus wie Russland, nämlich 454 Milliarden US-Dollar im Vergleich zu 149 Milliarden US-Dollar. Darauf, dass es mit der Überlegenheit der russischen Armee nicht allzu weit her sein kann, verweist zudem, dass sie nach mittlerweile drei Jahren des Krieges gegen die Ukraine nur 15 Prozent des ukrainischen Territoriums zusätzlich einnehmen konnte.
Was die tatsächlichen militärischen Potenziale betrifft, besteht ein Unterschied fraglos darin, dass jene in Russland unter einem zentralen Kommando stehen und besser aufeinander abgestimmt sind. Dennoch zeigen allein die obigen Zahlen deutlich, dass die EU beziehungsweise die europäischen NATO-Staaten militärisch schon heute vergleichsweise robust ausgestattet sind und an ihrer militärischen Schlagkraft bereits vor der Zeit von Sondervermögen und Maastricht-Ausnahmen für Aufrüstungszwecke kräftig gedreht haben.
Zweitens. Die EU-Aufrüstungspolitik – das »there is no alternative« unserer Zeit – zieht schon heute weitreichende Konsequenzen in sozialer, ökologischer, wirtschafts- und friedenspolitischer Hinsicht nach sich. Sie setzt zunächst einmal den Wohlfahrtsstaat massiv unter Druck. Nicht zufällig argumentierte etwa Janan Ganesh, der leitende Redakteur der Financial Times, im März dieses Jahres, dass »Europa seinen Sozialstaat einschränken [muss], um einen Kriegsstaat aufzubauen.« Einen entsprechenden Zusammenhang zeigen auch mehrere jüngere Studien: Höhere Militärausgaben bewirken einen »Crowding-out-Effekt« von Ausgaben für die Sozial- und Gesundheitspolitik, wie etwa Masako Ikegami und Zijian Wang schon im Juni 2022 als auch Nikolaos Grigorakis und Georgios Galyfianakis im Februar 2024 nachgewiesen haben. Nicht zu vernachlässigen ist darüber hinaus, wie unterschiedlich die entsprechenden Ausgaben in gesamtgesellschaftlicher Hinsicht wirken. Während Sozialstaatsausgaben der unteren Hälfte der Bevölkerung überproportional zugutekommen, steigern Rüstungsausgaben die Profite von Kapitaleignern im Rüstungssektor nahezu exklusiv.
Drittens. Aufrüstung und Krieg sind massiv klimaschädlich. Das ergab eine Studie des Transnational Institute vom Oktober 2023. Bereits heute sind das globale Militärwesen und die daran angegliederte Produktion für 5,5 Prozent der weltweiten klimaschädlichen Emissionen verantwortlich – wäre dieser Sektor eine Nation, wäre sie die viertgrößte Verschmutzerin weltweit. Produktion und Betrieb von Panzern, Flugzeugen und Waffen verursachen Emissionen von immenser Dimension, die sich kaum reduzieren lassen. Die langen Lebenszeiten von militärischem Gerät – von oftmals 30 bis 40 Jahren – ziehen einen Carbon-Lock-in nach sich und verursachen so langandauernde Klimaschäden. Eine massive Aufrüstung steht der Einhaltung der Pariser Ziele daher entgegen.
Viertens. Die verstärkte Orientierung auf Militärprodukte macht auch in Hinblick auf die gesamtstaatliche Wertschöpfung wenig Sinn: Eine erst im Juni veröffentlichte Studie der Universität Mannheim von Surplus-Redakteur Patrick Kackmarczyk und Tom Krebs kommt zum Schluss, dass der »sogenannte Fiskalmultiplikator, der misst, wie stark zusätzliche Staatsausgaben das Bruttoinlandsprodukt erhöhen, (.) bei Militärausgaben in Deutschland bei maximal 0,5« liegt, während Investitionen in Infrastruktur oder Bildung einen zwei- bis dreimal höheren Multiplikator aufweisen. Ursächlich dafür sind eine hohe Importquote, lange Vorlaufzeiten sowie eine extreme Kapitalintensität – und einhergehend damit – weitgehend ausbleibende kurzfristige Nachfrageimpulse. Dazu kommt, dass der Bereich Forschung und Entwicklung im Rüstungssektor oft als geheim klassifiziert ist und dessen Ergebnisse daher schlechter diffundieren. Anders gesagt: Im Unterschied zu Forschung und Entwicklung im zivilen Bereich lassen sich hier viel schwerer Übertragungseffekte generieren. Und nicht zuletzt schaffen Investitionen in Sozialstaat und Dekarbonisierung weit mehr Jobs als Rüstungsinvestitionen. Einer Studie der Brown University zufolge sorgen etwa Investitionen in das Bildungssystem für dreimal so viele Arbeitsplätze wie Investitionen im Rüstungssektor.
Fünftens. EU-Rüstungsausgaben erweisen sich im Kern mehr und mehr als ein Konjunkturpaket für die USA. Der Forschungsdienst des EU-Parlaments hat zuletzt gezeigt, dass ganze 78 Prozent der Rüstungsbeschaffungen der EU-Mitgliedstaaten zwischen 2022 und 2023 außerhalb der EU stattfanden; 63 Prozent davon entfielen auf Unternehmen aus den USA. SIPRI zufolge hat sich dieses Verhältnis in den letzten Jahren sogar zuungunsten der EU verschoben: Während im Zeitraum von 2020 bis 2024 rund 64 Prozent aller Waffenimporte der NATO-Staaten in Europa aus den USA kamen, waren es zwischen 2015 und 2019 nur 52 Prozent, so die Stockholmer Forscherinnen und Forscher. Volkswirtschaftliche Effekte eines Militärkeynesianismus entfalten ihre Wirkung, wenn überhaupt, vor allem zugunsten der USA – auf Kosten der EU.
Sechstens. Trotz Sondervermögen und Ausnahmen von den EU-Fiskalregeln erhöht der durch zusätzliche Rüstungsausgaben entstehende Zinsendienst den Druck auf die öffentlichen Haushalte. Surplus-Herausgeber Adam Tooze wies erst jüngst darauf hin, dass bisher weitgehend übersehen wird, dass das deutsche Sondervermögen zwar eine zusätzliche Verschuldung für Investitionen in die Bundeswehr ermöglicht, aber dennoch einen Zinsendienst nach sich ziehen wird, der unmittelbar Maastricht-wirksam ist. Dadurch wachse der Druck auf die einzelnen Mitgliedstaaten, Austeritätspolitiken umzusetzen, automatisch.
