Alle müssen sparen, erst recht die hochverschuldeten Kommunen. Dieses Mantra wiederholen Medien in der Konjunkturkrise regelmäßig. Marco Beckendorf sieht das anders. Er ist seit mittlerweile über zehn Jahren Bürgermeister der Gemeinde Wiesenburg/Mark in Brandenburg. Der Linken-Politiker befasst sich vor allem damit, wie die Kommune den rund 4.000 Einwohnerinnen und Einwohnern etwas zurückgeben kann – in Form von Investitionen. Zuletzt hat er gemeinsam mit anderen Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern ein Konzept für eine »progressive Schuldenbremse« vorgelegt. Im Interview mit Surplus erklärt er, warum Kommunen die entscheidenden Weichensteller sind, um aus dem Krisenmodus und zum Wachstum zu kommen.
Xenia Miller: Es heißt immer, die Kommunen hätten kein Geld. Wie schlimm ist es wirklich?
Beckendorf: Kaum etwas ist so einfach für den Staat zu organisieren wie Geld. Die Kommunen haben ihre Liquidität jederzeit sicherzustellen. Dafür dürfen Sie bei Engpässen in den sogenannten Kassenkredit (Dispo) gehen. Wir dürfen und müssen es sogar, denn staatliche Ausgaben sind das Schmiermittel unserer Volkswirtschaft. Der Bund tut dies übrigens auch. Seine kurzfristigen Anleihen heißen etwas wohlklingender »Bundesschatzanweisungen«.
Es stimmt jedoch, dass die Kommunen gerade höhere Finanzierungsdefizite einfahren. Diese Entwicklung wird sich durch die Rezession auch 2025 fortsetzen. Wenn man sich jedoch den Schuldenstand der Kommunen in Summe anschaut, dann sieht es bemerkenswert gut aus. Unsere Kommunen leisten circa 60 Prozent aller öffentlichen Bauinvestitionen und 40 Prozent der öffentlichen Gesamtinvestitionen. Dabei tragen sie nur etwa 7 Prozent der Gesamtverschuldung des Staates. Von den etwa 11.000 Kommunen in Deutschland sind 99 Prozent jedenfalls nicht überschuldet. Es gilt dringend mehr Schulden für Investitionen zu machen.
Um den Investitionsstau zu lösen?
Ja, aber es geht um viel mehr. Wir haben einen Investitionsstau von etwa 215 Milliarden Euro. Darüber hinaus braucht es aber auch zusätzliche Investitionen, beispielsweise in die sozialökologische Transformation von circa 170 Milliarden Euro. Und in den Wohnungsbau von circa 230 Milliarden Euro. Wir investieren fast nur noch in das, was wir vom Land, Bund oder von der EU gefördert bekommen. Das ist fatal. Wir haben es verlernt, als Kommunen Schulden zu machen. Es bräuchte mehr Direktzuweisungen statt neuer Förderprogramme. Um aus der Krise zu kommen, muss es jetzt darum gehen, die Investitionstätigkeit des größten öffentlichen Investors, das sind die Kommunen und ihre Eigenbetriebe, nicht abreißen zu lassen.

Welche Bereiche sind besonders wichtig?
Am wichtigsten sind Investitionen in die Infrastruktur. Die nehmen die Bürgerinnen und Bürger täglich wahr. Das Vertrauen in den Staat nimmt ansonsten weiter ab. Die AfD erhält immer mehr Stimmen. In den Umfragen liegen sie zum Teil schon vor allen anderen Parteien. Also muss man Geld in das investieren, was man täglich sieht, zum Beispiel in Straßen und Brücken. Gute Kitas und Schulen sind für Eltern oder jene, die es werden wollen, besonders wichtig. Diese leisten darüber hinaus in einer strukturschwachen Region sichere und gut bezahlte Arbeitsplätze. Der öffentliche Dienst ist ein Anker, insbesondere um Frauen im ländlichen Raum zu halten. Vielerorts ist die öffentliche Hand die größte Arbeitgeberin.
Wie ist die finanzielle Lage in Brandenburg?
Wir sind ein aufstrebendes Bundesland – das besonders vom Zuzug aus Berlin profitiert. Dadurch werden die Anteile an der Einkommensteuer wachsen. Aber die Produktion der Brandenburger Industriebetriebe und die Zahl der Bauanträge geht zurück. Firmen ziehen Investitionen ab, wir fallen hinter den Bundesdurchschnitt zurück. Die Frage ist: Investieren sie woanders oder machen sie es gar nicht?
Wie holt man die zurück?
Durch staatliche Ausgaben. Das Vertrauen in den Staat und in die Volkswirtschaft ist geschwächt, die Verbraucher und Unternehmen halten sich zurück. Kommunen, die jetzt sparen und keine Aufträge erteilen, machen damit ihre eigenen Firmen vor Ort kaputt. Aufträge für Instandsetzung, Straßen- und Wohnungsbau sind eingebrochen. Jetzt müssen wir Vertrauen wiederherstellen und positive Impulse aus den Kommunen senden – da, wo die Leute wohnen. Genau jetzt in der Rezession gibt es die nötigen Investitionen zu besseren Preisen. Viele Unternehmen sind nicht ausgelastet.
Es ist also gerade jetzt in der Krise günstiger zu investieren?
Es geht weniger um den Preis, der Zeitpunkt ist es. Zur Bundestagswahl 2025 hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) eine Sonderpublikation herausgegeben, mit dem prägnanten Titel: Öffentliche Investitionen sind notwendig, selbsttragend und kurbeln die Wirtschaft an. Durch Investitionen hat der Staat am Ende auch mehr Steuereinnahmen und kann dadurch Zins und Tilgung leisten. Solche Berechnungen gab es auch schon früher. Wir haben einfach nicht daraus gelernt. Ideal ist der Zeitpunkt nun aber auch nicht mehr.
Wann wäre der ideale Zeitpunkt gewesen?
Die Kommunen erzielten zwischen 2015 und 2022 insgesamt Überschüsse. In der gleichen Zeit ist der Investitionsstau jedoch weiter angestiegen. Das ist ein Widerspruch. Wir haben uns mit der zusätzlichen Liquidität weiter entschuldet, anstatt die dringenden Themen anzugehen. Dabei sollten Kommunen gar keine Überschüsse machen.
Bei uns in Brandenburg sind die Kommunen im Bundesvergleich am geringsten verschuldet und verfügen zugleich über die höchsten Bareinlagen. Diese entsprechen etwa 4 Prozent brandenburgischem Wirtschaftswachstum. Man könnte überspitzt sagen, die Kommunen haben durch ihre Überschüsse dem Land die Wirtschaftsleistung entzogen, die es gebraucht hätte, um Arbeitsplätze und Produktion auszubauen.
Ein konkretes Beispiel ist die Stadt Oranienburg im Speckgürtel von Berlin. Sie ist zuletzt wirtschaftlich und in der Einwohnerzahl schnell gewachsen und hat dabei viele Überschüsse gemacht. Diese wurden auch genutzt, um die Stadt zu entschulden. Nun, in der Krise, sind die Haushalte nicht ausgeglichen. Die sogenannte dauernde Leistungsfähigkeit kann nicht mehr dargestellt werden. In der Folge erteilt die Kommunalaufsicht keine Kreditgenehmigungen. Das sind die Regeln in der kommunalen Doppik. Diese führen nachweislich dazu, dass Kommunen mit Doppik weniger investieren als jene, die kameral buchen. Zurück zu Oranienburg: Obwohl die Stadt wächst und schuldenfrei ist, erhält sie keine Kredite für Investitionen. Das ist verrückt.
Wieso verhindert die Doppik Investitionen?
Die Doppik als kaufmännische Buchführung ist in einer Rezession kontraproduktiv. In Krisenzeiten darf der Staat nicht sparen. Der Staat muss in die Verantwortung. Er muss einer steigenden Arbeitslosigkeit entgegenwirken und die Konjunktur stabilisieren. Die Kriterien für eine Kreditaufnahme sind dann aber ein ausgeglichener Ergebnis- und Finanzhaushalt über den mittelfristigen Planungszeitraum von mindestens vier Jahren. Das schaffen 99 Prozent der Kommunen nicht. Dieses Problem existierte aber auch schon vor den Krisenjahren. Die Kämmereien planten zu vorsichtig, also mit Defiziten, obwohl es Überschüsse gab.
Sie wollen mit dem Konzept der »progressiven kommunalen Schuldenbremse« (PKS) gegensteuern.
Der Kern ist ein zins- und genehmigungsfreier Kreditrahmen für die Kommunen. Dieser erlaubt es ihnen auch in Krisenzeiten die geplanten Investitionen umzusetzen und neue anzustoßen. Allerdings mit der Vorgabe, dass der Tilgungszeitraum dem der Abschreibungszeiten entspricht.
Wir haben in vielen Gesprächen mit anderen Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern festgestellt, dass wir den Fehler machen, schneller zu tilgen, als wir die Abschreibungen, das sind gebuchte jährliche Wertminderungen auf das Vermögen, erwirtschaften. Das kann man eigentlich nur leisten, wenn man Überschüsse macht. Das ist aber nicht unser staatlicher Auftrag.
Und wenn die Steuereinnahmen wie zuletzt einbrechen, führt das am Ende dazu, dass wir noch weniger Liquidität haben, weil wir Geld vorzeitig an die Bank überwiesen haben. Das geht soweit, dass viele Kommunen die Tilgung ihrer früheren Investitionskredite mit Kassenkrediten begleichen müssen. Dann wird nicht getilgt, sondern umgeschuldet. Dieses Phänomen gibt es bundesweit und keiner spricht darüber, dass wir das falsch machen. Das bedeutet aber auch, dass die hohen Kassenkreditstände nicht zwingend ein Indiz zu hoher konsumtiven Ausgaben sind, so wie es in den Medien oftmals dargestellt wird.
Was sieht Ihr Konzept Schritt für Schritt vor?
Der Vorschlag, den wir mit anderen Städten in einem vom Bund geförderten Modellvorhaben erarbeitet haben, sieht vor, dass die Grenze des Kreditrahmens die durchschnittlichen jährlichen Erträge darstellen. Man darf sich also in Höhe eines Jahreseinkommens verschulden. Das ist unproblematisch. Das würden auch viele Bürger verstehen. Meine Frau und ich sind zum Beispiel proportional um ein Vielfaches höher verschuldet, weil wir uns ein Haus gekauft haben und das jetzt bis zum Rentenalter abzahlen müssen.
Bei steigenden Erträgen wächst der Kreditrahmen mit. Der Clou ist, dass man auch seine bestehenden Kassen- und Investitionskredite innerhalb des Rahmens zinsfrei umschulden kann. So braucht es auch keine weiteren Altschulden- bzw. Entschuldungsprogramme. Weiterhin darf man nicht verwendete Mittel an Zweckverbände und Eigenbetriebe wie bspw. Wohnungsbaugesellschaften oder Abwasserzweckverbände weiterleiten. Denn diese haben teils einen höheren Investitionsstau als die Kommunen.
Die PKS hätte nach jetzigem Stand ein Volumen von 370 Milliarden Euro, wenn sie zu 100 Prozent ausgelastet werden würde. Dabei entfallen circa 170 Milliarden Euro auf die Umschuldung bestehender Kredite und 200 Milliarden Euro wären neues Geld. Das entspräche dann etwa dem benannten Volumen des kommunalen Investitionsstaus.
Der Tilgungszeitraum spielt dabei eine wichtige Rolle. Wenn wir ein öffentliches Gebäude mit einer Abschreibungszeit von 80 Jahren eben nicht in 20, sondern tatsächlich über 80 Jahren tilgen, haben wir einen vielfach höheren Spielraum, weitere Investitionen zu tätigen. Die Zinskosten teilen sich Bund und Länder. Der Bund mit seinen Staatsanleihen und Bundesschatzanweisungen verfügt über die besten Konditionen und möge diese über die Länder an die Kommunen weiterreichen. Die jährliche Tilgungsleistung der Kommunen könnte im Gegenzug der Bund für die Zinsen einsetzen, denn auslaufende Staatsanleihen kann der Bund mit neuen überwälzen. Bei einer durchschnittlichen Abschreibungsdauer von 40 Jahren entspräche dies 2,5 Prozent. Das wäre mehr als die jetzigen Zinskosten für die siebenjährige Bundesanleihe.
Welche Rolle spielen die Gelder vom Bund, die jetzt im Sondervermögen fließen sollen? Da geht ja auch ein Teil als Investition an die Kommunen.
Sinnvoll ist eine Verteilung als zweckgebundene investive Schlüsselzuweisungen anhand der tatsächlichen Einwohnerzahl. Das heißt, die Mittel sind für Investitionen einzusetzen, jedoch ohne Vorgabe des Bundes.
Allerdings sind die 100 Milliarden Euro, die an die Länder und Kommunen fließen sollen, viel zu wenig. Für Brandenburg wären es in Gänze circa 3 Milliarden Euro. Selbst, wenn das Land Brandenburg die Mittel zu 100 Prozent an die Kommunen weiterreichen würde, wäre es kaum mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Denn eine kürzliche Umfrage unter den Städten und Gemeinden ergab, dass der Investitionsbedarf in den kommenden 5 Jahren bei 15,2 Milliarden Euro liegt. Darin sind die Bedarfe der Landkreise noch nicht mit eingerechnet. Daher braucht es zusätzlich die PKS. Sie würde in Brandenburg ein Volumen von etwa 12 Milliarden Euro besitzen.
Es bräuchte also einen Paradigmenwechsel.
Bund und Länder müssen ihre Politik an den tatsächlichen Bedarfen ausrichten. Wir können nicht in Brandenburg ernsthaft über ein Aufholen des Investitionsstaus sprechen, wenn wir über 3 statt 15 Milliarden Euro reden. Das lässt uns gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern unglaubwürdig erscheinen.
Es braucht eine 180-Grad-Kehrtwende. Wir müssen uns selbst eingestehen, dass wir Fehler gemacht haben. Wir brauchen mehr Transparenz über die tatsächlichen Zahlen. Schließlich können wir Kommunen als größter öffentlicher Investor die Konjunktur am ehesten beeinflussen, wenn man uns lässt. Und das mit einer Schlagkraft von mehreren tausend Verwaltungen. Doch gerade ist es noch so: Diejenigen, die die höchste Investitionstätigkeit haben, bekommen das wenigste Geld.