»Wenn der Zauber einer politischen Ordnung verfliegt, werden Ideen, die einst als unrealistisch und inakzeptabel galten, plötzlich möglich und sogar unvermeidlich«, schreiben Ezra Klein und Derek Thompson in ihrem neuen Buch Abundance (deutsch: Überfluss). Genau das könnte derzeit vor sich gehen: Laut Klein und Thompson entsteht gerade eine »neue politische Ordnung«. Die beiden wollen mit ihrem Buch eine Vision für die Wiederbelebung des Liberalismus in den Vereinigten Staaten entwerfen.
Das Buch hat in den USA für großes Aufsehen gesorgt. Unmittelbar nach seiner Veröffentlichung erschienen zahlreiche Rezensionen; es führt aktuell die Bestsellerlisten an. Das mag zum Teil der Prominenz der Autoren geschuldet sein, zeigt aber auch, dass das Buch eine wichtige Lücke füllt. In einer Zeit, in der renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler »sich fragen, ob der Faschismus auf amerikanischem Boden wiederauflebt«, wie Klein und Thompson beobachten, bräuchten Liberale eine »klar formulierte Vision der Zukunft« und eine Erklärung, »wie diese sich von der Gegenwart unterscheidet«. Um erfolgreich zu sein, müsse diese Vision etwas bieten: »Ein guter Weg, die gefährlichsten politischen Bewegungen zu marginalisieren, ist, den Erfolg der eigenen zu beweisen.«
Die Frage ist, ob Abundance seinen eigenen Ansprüchen gerecht wird, nämlich ob es eine »klar formulierte Vision der Zukunft« bietet, die sich ausreichend von den politischen Strategien des Status quo der Vor-Trump-Zeit unterscheidet; ob es Ideen liefert, die von den Chancen, die das derzeitige Chaos schafft, profitieren können; und ob es tatsächlich dazu beitragen kann, eine neue politische Ordnung einzuleiten, wie es die Autoren versprechen. In der aktuellen Krisenzeit braucht es eine antifaschistische Wirtschaftspolitik – eine Wirtschaftspolitik, die dabei hilft, einen Ausweg aus der gefährlichen Entwicklung hin zum Faschismus zu finden.
Utopischer Überfluss
Die Analyse von Klein und Thompson zum Scheitern der Prä-Trump-Politik läuft darauf hinaus, dass es eine unproduktive Arbeitsteilung zwischen Demokraten und Republikanern gegeben habe: Die Republikaner konzentrierten sich auf die Angebotsseite, die sie als ausreichend geregelt betrachteten, wenn die Märkte frei waren. Die Demokraten hingegen legten den Schwerpunkt auf Umverteilung und bauten auf nachfrageorientierte Maßnahmen wie Geldtransfers oder den Affordable Care Act im Gesundheitsbereich. Dabei gingen aber auch sie davon aus, der Markt werde dafür sorgen, dass die Nachfrage ihr eigenes Angebot schafft. Mit anderen Worten: Es war parteiübergreifender Konsens, dem Markt freie Hand auf der Angebotsseite zu lassen. Das Ergebnis war einerseits ein Überangebot an Konsumgütern, andererseits ein Mangel an öffentlichen Gütern und Infrastrukturausbau.
Die Fülle an Konsumgütern verdankte man der billigen Massenproduktion in China von Waren, die von mächtigen multinationalen Konzernen – meist mit Sitz in den USA – entworfen, vermarktet und vertrieben wurden. Infolgedessen habe Amerika verlernt, selbst Dinge herzustellen. Die heimische Infrastruktur und grundlegende Leistungen sind daher sowohl unzureichend verfügbar als auch überteuert. Angesichts dieser Knappheit wichtiger Güter fordern die Autoren eine neue Agenda der Fülle beziehungsweise des Überflusses: »Fülle, wie wir sie definieren, ist ein Zustand. Es ist der Zustand, in dem es genug von dem gibt, was wir brauchen, um ein besseres Leben zu führen, als wir es bisher hatten.« Diese Fülle, diesen Überfluss brauche es überall in den »Bausteinen der Zukunft«, die die beiden in den Bereichen »Wohnen, Verkehr, Energie und Gesundheit« verorten. Die »Abundance« soll auf grüne Weise geschaffen und durch Innovation weiter vorangetrieben werden.
Wenn dieser Zustand des Überflusses erreicht wird, brauchen wir uns auch nicht mehr allzu sehr um Umverteilung zu kümmern, scheinen Klein und Thompson uns sagen zu wollen. Auf den ersten Seiten des Buches beschreiben sie, wie ihre Überfluss-Vision im täglichen Leben aussehen würde. Es klingt wie eine grüne Version eines reichen US-amerikanischen Vororts: Zum Einfamilienhaus gehören Solarkollektoren, die »nur ein paar Meter über deinem Kopf auf dem Dach angebracht sind«, oder eine Drohne, die »wie ein Kolibri über dem Garten des Nachbarn schwebt«. Der Kühlschrank ist voll mit frischem Gemüse. Die Menschen sind wohlhabend. Die Lebensumstände der oberen Mittelschicht der USA (die die Lebensrealität der Autoren widerspiegeln dürften) stehen darin allen offen, ohne dass jemand etwas von seinem früheren Besitz aufgeben müsste. Wer könnte etwas gegen diesen American Dream in grün einwenden? Es ist eine Utopie, die die Autoren auch ausdrücklich als solche bezeichnen. Sie beklagen: »In unserer Zeit gibt es zu wenig utopisches Denken.«
Blick aus dem mittelständischen Elfenbeinturm
Aber wie steht es um das Verhältnis dieser utopischen Vision zur Demokratie? Man stelle sich vor, man gehört zu den zwei Dritteln der US-Arbeitnehmer, die in der lokalen Dienstleistungswirtschaft tätig sind (eine von den Autoren zitierte Statistik): Du stehst jeden Morgen auf, um Gebäude zu reinigen, Haare zu schneiden, Kosmetikbehandlungen anzubieten, Haushaltsgeräte zu reparieren, für Uber zu fahren, Arzttermine zu koordinieren oder Anrufe von wütenden Kunden anzunehmen. Wer hat das Geld, um sich diese Dienstleistungen stets zu leisten? Diejenigen, die viel mehr haben als Du selbst. Du bist ständig mit Menschen konfrontiert, die tatsächlich im Überfluss leben, die Kühlschränke voller frischer Lebensmittel haben, die leise dahingleitende Elektroautos fahren und sich am satten Grün ihres Vorgartens erfreuen. Aus dieser Sicht besteht das Problem nicht darin, dass es nicht genug materiellen Reichtum gibt, sondern dass Du davon ausgeschlossen bist. Trotz langer Arbeitszeiten und dem Herumjonglieren zwischen mehreren Jobs und zusätzlicher Care-Arbeit lebst Du weiterhin mit knappen Mitteln, während andere im Überfluss schwelgen.
Das ist die reale Lebenswelt der meisten Menschen. Um eine neue politische Ordnung aufzubauen, müsste die Demokratische Partei die vielen Menschen aus der arbeitenden Bevölkerung zurückgewinnen, die bei den letzten Wahlen zu Hause geblieben sind, sowie die Verlierer von Trumps Schocktherapie für sich gewinnen. Die Frage ist: Werden diese Menschen sich für eine glückselige Vision von grünem Überfluss mobilisieren lassen, in der alle Verteilungs- und Machtkonflikte einfach so verschwunden sind? Ich bezweifle es.
Kamala Harris hatte versucht, im Wahlkampf mit dem Versprechen einer »Opportunity Economy« (also einer Wirtschaft, in der alle Menschen Möglichkeiten haben) zu punkten – einem ebenso vagen wie harmonieseeligen Konzept, das die absurden Ungleichheiten in den heutigen USA einfach wegwünscht.
Bekanntlich lief es nicht sonderlich gut für Harris. Es ist bezeichnend, dass der Werbespot, der in Fokusgruppen am besten ankam, kaum ausgestrahlt wurde. Darin wurde direkt das Machtungleichgewicht angesprochen, das der Ottonormal-Amerikaner jeden Tag erlebt: Harris versprach, »gegen Vermieter vorzugehen, die zu viel verlangen« und »Preistreibern den Garaus zu machen«. Heute versammeln sich Zehntausende Menschen (auch in erzkonservativen Bundesstaaten), um Alexandria Ocasio-Cortez und Bernie Sanders auf deren »Fighting Oligarchy«-Tour zu sehen. Die Menschen sind wütend, weil sie zu lange inmitten des Überflusses Mangel leiden mussten.
Um die Demokratie wieder zu stärken, müssen die enormen wirtschaftlichen Ungleichgewichte beseitigt werden, die sich über Jahrzehnte hinweg aufgebaut haben. Die in Abundance skizzierte Vision lässt Fragen nach Machtverhältnissen und Umverteilung jedoch weitgehend außer Acht.