Alle Jahre wieder streiten sich Eltern und Kinder, Weggezogene und Dagebliebene, der Boomer-Onkel und die linke PoWi-Studentin. Bei Gans und Kartoffeln, Wein und Geschenken kann so einiges hochkochen. Viele erleben ihr familiäres Umfeld in diesen Zeiten als »polarisiert«, besonders zur Weihnachtszeit. In seinem Buch Polarisierung plädiert der Soziologe Nils Kumkar dafür, Konflikte offen auszutragen, dabei aber stets zu benennen, wessen Interessen in der Gesellschaft aufeinanderprallen, welche Gruppe was mit welchen Mitteln durchsetzen will. Wenn also beim Weihnachtsessen mal wieder gängige marktliberale Mythen wiederholt werden, hilft womöglich der Verweis darauf, wer sie weshalb mit welchem Interesse so populär verbreitet.
Mythos 1: »Das Bürgergeld ist zu hoch«
Der FDP, der AfD und der Union ist das Bürgergeld seit Jahren »zu hoch«. Mit dieser Behauptung spalten Politikerinnen und Politiker die Lohnabhängigen in zwei Gruppen, die gegeneinander konkurrieren sollen: diejenigen mit, und diejenigen ohne Job. Letztere nehmen ersteren angeblich etwas weg, und erstere sollen selbst in ihrem schlecht bezahlten, anstrengenden Job stets ehrfürchtig sein, denn immerhin haben sie einen.
Wenn dann, wie kürzlich beschlossen, beim Bürgergeld wieder Vollsanktionen eingeführt und die Höhe durch ausbleibende Anpassungen an gestiegene Preise real sinkt, diszipliniert das alle Lohnabhängigen, nicht nur diejenigen, die Bürgergeld empfangen. Alle sollen »den Gürtel enger schnallen«, nicht für höhere Löhne oder kürzere Arbeitszeiten kämpfen, sondern sich damit zufriedengeben, was angeblich »in dieser Lage« gerade so möglich sei. Eine Studie, die dieses Jahr in der Fachzeitschrift Review of Economic Studies erschienen ist, schätzt, dass 76 Prozent des Rückgangs an Arbeitslosigkeit durch Hartz IV auf weniger Kündigungen eher langjähriger und besser bezahlter Beschäftigter zurückzuführen sind. Menschen sind eher in ihrem Job geblieben, weil sie Angst bekamen, arbeitslos zu werden.
Nicht nur verschleiert die rituelle Wiederholung dieses Mythos die dahinterliegende Absicht, das Kräfteverhältnis zwischen Arbeitgebenden und -nehmenden hin zu ersteren zu verschieben, sie beruht zusätzlich noch auf vollkommen falschen Tatsachen. Wer in Vollzeit arbeitet, hat immer mehr als jemand, der Bürgergeld erhält. Das hat das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung im August in einer Studie bestätigt. Demnach ergibt sich je nach Haushaltsgröße, Miete und anderen Faktoren ein Lohnabstand von 380 bis 750 Euro.
»Zu hoch« ist das Bürgergeld auch für den Bundeshaushalt nicht. Dort klafft eine Milliardenlücke, die die Union mit Kürzungen bei den Ärmsten füllen wollte. Von 15, gar von 20 Milliarden schwärmten Merz und Linnemann. Mit der rigorosen Reform zur neuen Grundsicherung sollen 2026 tatsächlich nur 86 Millionen Euro, im nächsten Jahr 70 Millionen eingespart werden, während in den Folgejahren sogar mit 11 beziehungsweise 9 Millionen Euro mehr kalkuliert wird. Der Preis dafür ist hoch: Menschen sollen 100 Prozent der Leistungen gestrichen werden können, die Miete wird nur noch in »angemessener« Höhe übernommen (und wo ist sie schon noch »angemessen«?), und wer unter 30 Jahre alt ist, muss zuerst all sein Vermögen über 5.000 Euro ausgeben, bevor es auch nur einen Cent vom Staat geben soll.
Eine weitere Studie des Vereins Sanktionsfrei zeigte dieses Jahr, dass der Regelsatz von 563 Euro ohnehin zu niedrig ist. In einer Umfrage unter Empfängerinnen und Empfängern sagten 72 Prozent, dass das Geld nicht ausreiche, »um ein würdevolles Leben zu führen«, 77 Prozent belaste ihre Einkommenssituation psychisch. Besonders schockierend ist, dass nur jede zweite Befragte angibt, dass in ihrem Haushalt alle satt werden.
Nicht zuletzt ist die neue Grundsicherung kein probates Mittel, um die Wirtschaft zum Laufen zu bekommen. Eine höhere Job-Suchintensität durch niedrige Regelsätze und harte Sanktionen kurbelt die Wirtschaft weniger an, als Haushalten schlicht mehr finanzielle Unterstützung zu geben, wie Tom Bauermann vom IMK in einer Studie gezeigt hat. Mehr Geld schaffe mehr Konsummöglichkeiten, was wiederum mehr Investitionen und Beschäftigung seitens der Unternehmen zur Folge hätte, »das Grundprinzip expansiver Fiskalpolitik«, so Bauermann.
Mythos 2: »Die Migranten liegen uns nur auf der Tasche«
Auf die wirtschaftliche Bewertung von geflüchteten und migrierten Menschen sollte man sich ohnehin nicht einlassen. Menschen nach »Nützlichkeit« zu bewerten, widerspricht der Menschenwürde. Wenn das am Weihnachtstisch aber doch geschieht, kann man darauf hinweisen, dass ohne die Migration die Wirtschaft und das aktuelle Rentensystem zusammenbrechen würden. Zudem sind Menschen mit Migrationshintergrund viel öfter Unternehmensgründerinnen und -gründer als Menschen ohne Migrationshintergrund. Auch wenn die Behauptung, migrierte Menschen würden Deutschland wirtschaftlich schaden, faktisch falsch ist, ist ihre Wirkung noch gefährlicher: Die lohnabhängige Klasse wird – ähnlich wie in der Bürgergeld-Debatte – gespalten in Menschen, die etwas »leisten«, und solche, die etwas »kosten« – und das nach rassistischen Kriterien. Niemand kann in einer solchen Debatte gewinnen, außer diejenigen, die migrierte Menschen nicht in Deutschland haben möchten, egal ob sie »etwas beitragen« oder nicht.
Mythos 3: »Wenn die Erbschaftsteuer erhöht wird, verliere ich mein Einfamilienhaus«
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