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Das Wirtschaftsmagazin

Die Regierungen helfen nicht: Deshalb segeln Aktivisten nach Gaza

Die Regierungen haben die Menschen in Gaza im Stich gelassen. Jetzt nehmen gewöhnliche Menschen humanitäre Angelegenheiten selbst in die Hand – und riskieren dabei ihr Leben.

5 Minuten Lesedauer

Das israelische Militär fängt ein Schiff der »Global Sumud Flotilla« ab. Credit: IMAGO/Anadolu Agency

Der größte Konvoi von Schiffen mit Freiwilligen, die sich zum Ziel gesetzt haben Hilfsgüter an die hungernden Menschen in Gaza zu bringen, die »Global Sumut Flotilla«, wurde vom israelischen Militär in internationalen Gewässern abgefangen. Freiwillige wurden verhaftet. Wir wissen nicht, wo sie sich derzeit aufhalten. Einer von ihnen ist David Adler. In einem seiner letzten Social-Media-Posts schrieb er einen Brief darüber, was es bedeutet, als Jude am heiligsten jüdischen Feiertag, Yom Kippur, auf Kurs nach Gaza zu sein mit der Aussicht, vom israelischen Militär verhaftet zu werden. »Es ist ein Segen, dass uns an Yom Kippur, dem jährlichen Tag der Sühne, der uns dazu aufruft, über unsere Sünden zu reflektieren und darüber, was wir zur Wiedergutmachung tun können, das Abfangen der Flotilla bevorsteht«, schreibt er – und fragt: »Wie können wir für das sühnen, das in unserem Namen begangen wurde? Wie können wir Vergebung suchen wenn sich die Sünden jede Stunde vervielfachen mit den Bomben und Kugeln, die auf Gaza regnen?« Er widmet den Brief seinem Großvater Jacques Adler, der als Jugendlicher Teil des Pariser Widerstands gegen die Nazis kämpfte, während seine Familie und Freunde ins Konzentrationslager gebracht wurden.

In diesem Artikel, der auf Englisch im Guardian erschienen ist, erklärt er, warum sie sich mit der Flottille auf den Weg nach Gaza gemacht haben. Es geht darum, der Welt die Brutalität der israelischen Blockade gegen die Lieferung von Hilfsgütern vor Augen zu führen und die Staaten dazu aufzurufen, nicht mehr dabei zuzusehen, wie den Menschen in Gaza selbst das Nötigste zum Leben verwehrt wird. Dabei handelt es sich um ein zutiefst ökonomisches Anliegen, wenn wir die Wirtschaft als die materielle Grundlage von Gesellschaft und menschlichem Leben sehen.

- Isabella Weber


Während die Flugzeuge der Staatschefs zur UN-Generalversammlung in New York landen, segelt eine Flotte von Zivilschiffen nach Gaza: der größte Konvoi, der jemals das Mittelmeer überquert hat – mit dem Ziel, einen humanitären Korridor zu schaffen, um die hungernden Menschen in Palästina zu erreichen.

Ich bin Mitglied dieser Mission. Seit die ersten Boote Barcelona verlassen haben, bin ich auf der Family, dem Führungsschiff der Flotte, im Einsatz: einem bescheidenen Motorkreuzer, der Ärzte und Anwälte, Journalisten und Parlamentarier, Studenten und Seenotretter aus zehn Ländern der Welt befördert.

Insgesamt befördert diese »Global Sumud Flotilla« Hunderte von Teilnehmern aus mehr als 40 nationalen Delegationen, die alle die gemeinsame Überzeugung teilen, dass etwas getan werden muss, um die Zerstörung Gazas zu stoppen – und dass, wenn die Regierungen sich weigern, dies zu tun, es die einfachen Menschen tun werden.

Das Völkerrecht durchsetzen

Letzte Woche erklärten Rechtsexperten einer unabhängigen UN-Kommission, dass Israel im Gazastreifen Völkermord begangen habe. »Es ist klar, dass die Absicht besteht, die Palästinenser in Gaza durch Handlungen zu vernichten, die die Kriterien der Völkermordkonvention erfüllen«, lautete ihr Fazit. Für die Teilnehmer dieser Flottille – wie für so viele Millionen Menschen auf der ganzen Welt – kommt die Erklärung der Vereinten Nationen nicht überraschend. In den zwei Jahren seit den Angriffen vom 7. Oktober haben wir unzählige Bilder sinnloser Massaker gesehen und uns machtlos gefühlt, dies zu verhindern.

Diese Macht liegt laut Völkerrecht bei den Staaten, die uns vertreten. Im vergangenen Jahr verabschiedete die UN-Generalversammlung mit überwältigender Mehrheit die Resolution ES-10/24, die alle Mitgliedstaaten verpflichtet, unverzüglich Maßnahmen zum Schutz der Grundrechte des palästinensischen Volkes zu ergreifen. Doch ein Jahr später – wenige Tage nach Ablauf der in dieser Resolution festgelegten Frist – rüsten dieselben Mitgliedstaaten den Staat Israel weiterhin auf, unterstützen und begünstigen ihn bei seiner eskalierenden Kampagne der Zerstörung, Vertreibung und Annexion der besetzten palästinensischen Gebiete.

Deshalb gehen Millionen von Menschen auf die Straße, von New York bis London und darüber hinaus: um ihre Vertreter zu ermahnen, auf das Gewissen ihrer Wähler zu hören und auf die humanitäre Krise in Gaza mit der gebotenen Dringlichkeit zu reagieren. Diese Bewegung wächst. Diese Woche wurden Häfen, Züge und Autobahnen in ganz Italien mit einer einzigen Botschaft der Solidarität lahmgelegt: »Blocchiamo Tutto«, wir werden alles blockieren, bis die Regierung von Giorgia Meloni die wirtschaftlichen, militärischen und diplomatischen Beziehungen zum Staat Israel abbricht.

Die anhaltende Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft hat uns auch dazu gezwungen, auf See Maßnahmen zu ergreifen. Wir sind nicht die Ersten, die dies tun. Seit 2008 hat die Freedom Flotilla Coalition Dutzende von zivilen Schiffen mit Tonnen von humanitären Hilfsgütern nach Gaza entsandt. In einigen Fällen – wie beispielsweise bei der Mavi Marmara – hat Israel mit tödlicher Gewalt reagiert, das Schiff gestürmt und neun Aktivisten an Bord getötet; ein zehnter starb in den folgenden Stunden an seinen Verletzungen. In anderen Fällen – wie beispielsweise kürzlich bei der Madleen – hat Israel die Aktion als bloße »Selfie-Kreuzfahrt« verspottet, mit der die Teilnehmer ihrer Berühmtheit frönen wollten.

Unsere derzeitige Reise ist jedoch beispiellos: eine Flotte von 40 Schiffen, größer als alle bisherigen Missionen zusammen. Eine derart großangelegte humanitäre Aktion hat den Staat Israel gezwungen, sich zwischen zwei unvereinbaren Narrativen zu entscheiden: Sind wir einfach nur Vergnügungsreisende, die über das Mittelmeer kreuzen? Oder stellen wir eine unmittelbare Bedrohung für ihre nationale Sicherheit dar?

Das Narrativ der israelischen Regierung

In den letzten Tagen hat die Regierung von Benjamin Netanjahu ihre Entscheidung deutlich gemacht: Unser Konvoi wird nun als »Hamas-Flottille« bezeichnet. Der Staat Israel unterstellt der Flottille Verbindungen zum »organisierten Terror« und droht, unsere Flottille mit allen notwendigen Mitteln zu »stoppen« – ein klarer und eklatanter Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht.

Ich kann die Angst in den Gesichtern meiner Mitreisenden sehen. Jeden Tag führen wir Übungen durch, um uns auf gewaltfreie Vorgehensweisen im Falle einer Aufbringung vorzubereiten. Und jede Nacht beobachten wir abwechselnd den Himmel nach Drohnen, die im Laufe unserer Reise immer häufiger über uns fliegen.

Dies ist keine Show. Im tunesischen Hafen von Sidi Bou Said griffen Drohnen unsere Schiffe in zwei aufeinanderfolgenden nächtlichen Angriffen an und warfen Sprengkörper auf die Decks der Family und der Alma. In der anschließenden Untersuchung bezeichneten die tunesischen Behörden die Angriffe als »vorsätzliche Aggression« gegen die Flottille. Aber die diffamierende Darstellung einer »Hamas-Flottille« – motiviert durch Antisemitismus statt Humanismus, geleitet von »Terroristen« statt normalen Bürgern – läuft Gefahr, ins Absurde abzugleiten. Hier auf der Family begleitet mich Ada Colau, ehemalige Bürgermeisterin von Barcelona und Mutter von zwei kleinen Kindern. Zu mir gesellt sich Bianca Webb-Pullman, eine praktizierende Hausärztin, die den weiten Weg aus Australien gekommen ist. Und auch Adèle Haenel, eine französische Schauspielerin, die es genießt, mich im Schach zu schlagen, wann immer wir an Bord einen freien Moment haben.

Meine persönliche Identität stellt für das Narrativ der israelischen Regierung ein besonderes Problem dar. Als Mitglied einer jüdischen Familie in den Vereinigten Staaten habe ich mich der humanitären Mission aus dem gleichen Grund angeschlossen, aus dem so viele Juden in den USA sich gegen den Angriff auf Gaza aussprechen: um meine Identität – mein Erbe, unsere Traditionen, ihre Symbole – von dem Nationalstaat zurückzugewinnen, der sie zu monopolisieren versucht.

Was tut die internationale Staatengemeinschaft?

Regierungen auf der ganzen Welt beginnen, sich zu den Drohungen gegen unsere Flottille zu äußern. Letzte Woche gaben 16 Staaten – darunter Spanien und Slowenien, Brasilien und Mexiko – eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie warnten: »Jeder Verstoß gegen das Völkerrecht und die Menschenrechte der Teilnehmer der Flottille, einschließlich Angriffen auf die Schiffe in internationalen Gewässern oder illegaler Inhaftierung, wird zur Rechenschaft gezogen werden.« Wir von der Flottille begrüßen diese wichtige Anerkennung unserer humanitären Absichten und unserer Rechte unter dem internationalen Gesetz. Wir fragen uns aber gleichzeitig, warum so viele Regierungen, deren Staatsangehörige an Bord sind, wie beispielsweise Frankreich und die Vereinigten Staaten, sich geweigert haben, das Statement zu unterzeichnen.

Die Erklärung verwechselt jedoch Mittel und Zweck. Diese Flottille ist lediglich ein Mittel, um einen humanitären Seeweg zu schaffen, da der Staat Israel die Hilfslieferungen auf dem Landweg blockiert. Jeder Staat, der die humanitäre Krise in Gaza ernst nimmt, sollte nicht nur unserer zivilen Flotte Schutz bieten, sondern sich uns anschließen und Schiffe in einer Größenordnung einsetzen, die der Schwere des derzeitigen Leids in Gaza entspricht.

Donald Trump hat mit der Gründung der sogenannten »Gaza Humanitarian Foundation« das Völkerrecht ad absurdum geführt, da diese Stiftung – weit entfernt von ihrer erklärten Mission – grausame, unmenschliche und oft tödliche Methoden für die Verteilung der dürftigen Hilfsgüter einsetzt. Es sollte jedoch nicht Aufgabe der einfachen Bevölkerung sein, das Völkerrecht vor dem Ruin zu bewahren. Nur Staaten – die jetzt bei den Vereinten Nationen versammelt sind – können die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die Zerstörung Gazas zu stoppen und das Leben und die Lebensgrundlage seiner Bevölkerung zu schützen.

Derzeit bereiten wir uns darauf vor, unsere Mission in den kommenden Tagen abzuschließen. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels ist es für Staaten noch nicht zu spät, sich zu engagieren und sich unserer Mission anzuschließen, um gemeinsam mit uns über das Mittelmeer zu segeln. Aber auch ohne sie werden wir weiterfahren, unbeeindruckt von den Drohungen, die gegen uns ausgesprochen wurden. Gaza kann nicht warten.

David Adler

David Adler ist Co-Generalkoordinator von Progressive International.

Isabella Weber

Isabella Weber ist Herausgeberin von Surplus und Professorin für Volkswirtschaftslehre an der University of Massachusetts Amherst.

#4 – Kampf um Zeit

Freizeit ist kein Luxus. Wer sie angreift, gefährdet Wohlstand und Freiheit.

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