In ihrem neuen Buch The Law of Capitalism and How to Transform it zeigt die Juristin Katharina Pistor, wie tief der Kapitalismus im Recht verankert ist – und warum genau dort der Hebel für Veränderung liegt. Von Patenten über Wohnungskonzerne bis hin zu internationalem Handel: Wer die Spielregeln schreibt, verteilt Macht und Geld. Im Surplus-Interview erklärt Pistor, wie wir mit klug genutztem Recht Gemeingüter schützen, Konzerne in die Pflicht nehmen und Schritt für Schritt Wege jenseits des Kapitalismus einschlagen.
Maxine Fowé: Frau Pistor, der Kapitalismus ist in Ihren Augen primär ein Rechtsregime statt eines Wirtschaftssystems. Warum?
Pistor: Aus marxistischer Perspektive wird argumentiert, die materiellen Grundlagen seien die Produktionsverhältnisse. Aber die Produktionsverhältnisse sind durch Recht geordnet. Es muss jemand Kapital haben, um das in den Produktionsverlauf hineinzubringen. Wer hat das Recht, das zu tun? Das ist eine juristische Frage. Es geht mir darum, den Unterbau des Kapitalismus sichtbar zu machen. Obwohl der Kapitalismus in Recht kodiert wird, ist das kapitalistische System nicht durch einen großen Plan entstanden. In der privaten Rechtsordnung gibt es rechtliche Bausteine wie Vertrag und Eigentum – damit können Anwältinnen und Anwälte Objekte, Zahlungsversprechen und Erfindungen in Kapitalgüter verwandeln. Ziel ist: Diese neu geschaffenen Rechtspositionen sollen gerichtlich durchsetzbar sein, ohne erst ein neues Gesetz zu brauchen. Wer zuerst etwas codiert, hat den First-Mover-Vorteil: Rechtspositionen werden geschaffen, damit Profite gemacht werden können – solange, bis jemand sie infrage stellt und die Kosten einer Anfechtung trägt. Wie ich bereits in meinem Buch Code des Kapitals ausgeführt habe, entstehen neue Kapitalgüter durch das clevere Neukombinieren bekannter Rechtsbausteine mit Gütern verschiedenster Art.
Alles kann in Ihren Augen über das Recht zu einem Kapitalgut gemacht werden?
Meine These lautet vereinfacht: Gib mir ein Objekt, ein Zahlungsversprechen oder eine Idee; mit der richtigen gesetzlichen Kodierung mache ich daraus ein Kapitalgut – ein Gut, das Vermögenswerte schafft oder schützt. Land ist an sich kein Vermögensgut. Es kann genutzt, aber nicht versilbert werden. Wenn ich Geld daraus machen will, brauche ich einen Eigentumstitel, und der kommt aus dem Recht. Was mit der Einhegung von Land im 15. Jahrhundert begann, setzt sich bis heute fort: Eigentumstitel, Hypotheken und deren Verbriefung sowie Daten werden durch juristische Kodierung zur privaten Profitquelle.
Während der Covid-Pandemie hätten viel mehr Menschen mit Impfstoff versorgt werden können, wenn die Länder des Globalen Nordens die Patente für Impfstoffe und Medikamente freigegeben hätten. Was war das Hindernis?
Patente. Diese immateriellen Güter existieren nur durch Recht. Unternehmen, die es geschafft haben, ein Patent zu bekommen (und die meisten Patente werden an Unternehmen, nicht an die Erfinder vergeben), können andere davon abhalten, die gleiche beziehungsweise ähnliche Innovation zu nutzen. Sie allein verfügen darüber, wer Zugang dazu haben soll und zu welchen Bedingungen. Das soll angeblich die Erfindungen anfeuern, aber es hat oft den gegenteiligen Effekt, denn oft werden Erfindungen patentiert, um andere davon abzuhalten, sie zu nutzen, selbst wenn das Unternehmen selbst noch keinen lukrativen Anwendungsbereich gefunden hat.
Was könnte dem Einhalt gebieten?
Bei Pharmazeutika – auch bei der Covid-Impfung – gibt es grundsätzlich die Möglichkeit, dass der Staat eine Zwangslizenz verlangt und so Gemeinnützigkeit herstellt. Das wird gelegentlich genutzt; bei HIV/AIDS wurde es etwa angedroht. Oft lenkt die Pharmaindustrie dann im vorauseilenden Gehorsam ein – allerdings zu Bedingungen, die sie selbst festlegen will. Darüber hinaus könnten staatlich geförderte Forschungsgruppen Patente beantragen, um auszuschließen, dass diese in die Hände von Privaten fallen, die um der Profite willen vielen den Zugang hierzu unmöglich machen. Und schließlich sollte gerade bei genetischen und anderen Gemeingütern kein Patentschutz vergeben werden.
Das ist ein Beispiel dafür, dass der Kapitalismus in Recht kodiert ist. Warum ist er so resistent gegenüber rechtlicher Steuerung?
Das liegt daran, dass das Recht des Kapitalismus aus zwei im Widerstreit stehenden Rechtsordnungen besteht: auf der einen Seite die Privatrechtsordnung, auf der anderen Seite das öffentliche Recht, zu dem neben dem Verfassungsrecht das Verwaltungsrecht einschließlich der Regulierung gehört. Wenn dem Kapitalismus Grenzen gesetzt werden, zum Beispiel nach einer Finanzkrise, dann wird in der Regel das öffentliche Recht bemüht: Neue Regeln werden verabschiedet, die von Behörden überwacht und durchgesetzt werden. Das Privatrecht bleibt meist verschont. Aber es ist das Privatrecht – die Module des Code des Kapitals –, die dann genutzt werden, um dem neuen Regelwerk zu entkommen. Dabei wird darauf geachtet, dass nichts passiert, was explizit rechtswidrig ist, sondern dass Lücken im System genutzt werden, um genau das zu tun, was strengen Regeln unterliegt – nur mit anderen Mitteln, die nicht explizit unter die Regelung fallen. Bestes Beispiel hierfür ist das Schattenbankenwesen: Da werden bankähnliche Geschäfte abgewickelt, aber außerhalb von Organisationen, die das Recht als Banken ausgewiesen hat.
Erklärt das vielleicht auch die rechtlich kodierten neokolonialen Kontinuitäten, die Sie am Beispiel des Eigentums in Indiens Verfassungsgeschichte beschreiben?
Ja, bei der Ausarbeitung der indischen Verfassung wurde heftig diskutiert, ob Eigentum als fundamentales Recht gelten soll – vor dem Hintergrund von 200 Jahren Kolonialherrschaft durch die British East India Company und die Royal Crown und der Begünstigung der großen indischen Landbesitzer. Man entschied: Eigentum ist als fundamentales Recht geschützt, aber Entschädigungen nach Enteignungen legt der Gesetzgeber fest, nicht die Gerichte – um demokratische Umverteilung zu ermöglichen. Der gerichtliche Einfluss wurde begrenzt, woraufhin der Gesetzgeber nachsteuerte. 1978 wurde Eigentum nicht länger als fundamentales Recht geschützt. Zugleich wurde die Macht der Gerichte verstärkt, Entschädigungen festzulegen, was den Eigentümern entgegenkam – genau denen, deren Einfluss nach der Unabhängigkeit zurückgedrängt werden sollte.

Es gibt auch andere Beispiele. In den USA sind die Jim-Crow-Gesetze zwar offiziell abgeschafft, doch ihre rassistischen Strukturen wirken bis heute nach.
Nach der Emanzipation der ehemals versklavten Menschen wurden echte Fortschritte durch die Jim-Crow-Gesetze unterminiert. Selbst nach dem offiziellen Ende dieser Gesetze fungierte das Weißsein faktisch als Eigentumsrecht, denn Schwarze wurden beispielsweise bei der Vergabe von Krediten für das Eigenheim oder der Wahl zur Jury systematisch von Staats wegen diskriminiert. Hinzu kam, dass auch die föderalen Gerichte dazu genutzt wurden, neue Rechte, die eigentlich für Schwarze gelten sollten, für die Seite des Kapitals umzufunktionieren. Der 14. Verfassungszusatz sollte dann Schwarzen Menschen Zugang zu Bundesgerichten eröffnen, um ihr Eigentum zu schützen. Doch faktisch nutzten ihn vor allem Unternehmen zur Stärkung ihrer Eigentumspositionen. Der Trick war, den Begriff der »Person« so auszulegen, dass er nicht nur für Menschen, sondern auch für juristische Personen galt. Dieses Phänomen beschreibe ich in dem Buch mit »Rechtsarbitrage«.
