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Das Wirtschaftsmagazin

Rezession oder Rettung? »Degrowth« wird oft falsch verstanden

»Degrowth« ist das Feindbild konservativer Leitmedien. Doch auch unter Progressiven gibt es viele Missverständnisse.

6 Minuten Lesedauer

Zum Schlagwort »Degrowth« gibt es viele Missverständnisse (Symbolbild). Credit: IMAGO/ZUMA Press Wire

Der berühmte Bericht »Grenzen des Wachstums« des Club of Rome von 1972 hat die Frage aufgeworfen, ob grenzenloses Wachstum auf einem endlichen Planeten möglich ist. »Degrowth« und »Postwachstum« sind mittlerweile mehr als nur aktivistische Slogans, sondern bilden ein etabliertes wissenschaftliches Forschungsfeld, das seit 2022 in die Berichte des Weltklimarates (IPCC) aufgenommen wurde und aktuell mit rund neun Millionen Euro von der EU-Kommission gefördert wird. Die überwiegend polarisierte Debatte um (un)endliches Wachstum wird zunehmend auch in reichweitenstarken Qualitätsprintmedien geführt, wie ich in zwei Studien untersucht habe, die im Degrowth Journal und als Preprint erschienen sind. – Ist Wachstum angesichts verschärfter ökologischer Krisen weiterhin möglich und wünschenswert? 

Die Anhängerinnen und Anhänger grünen Wachstums beantworten diese Frage mit »Ja« und argumentieren im Kern wie folgt: »Wachstum« ist nur eine Zahl für den Geldwert von Waren und Dienstleistungen, dem Bruttoinlandsprodukt (BIP). Zwar ist Wachstum durch das Verbrennen fossiler Rohstoffe historisch mit steigenden CO₂-Emissionen und Ressourcenverbrauch einhergegangen, aber vielen Industrienationen ist es durch technischen Fortschritt und den Ausbau erneuerbarer Energien gelungen, trotz Wachstum ihre Emissionen zu senken, es also von Umweltbelastungen zu entkoppeln. Grünes Wachstum funktioniere – wir würden es sogar brauchen, um die grüne Transformation zu schaffen. Modellierungen in IPCC-Berichten zeigen zudem, dass es möglich ist, die Erderhitzung auf unter 2 Grad zu begrenzen, wenn neben Effizienz-Strategien etwa CO₂ mit sogenannten Carbon Capture Technologies (CCS) aus der Luft gesaugt wird. Ein Schrumpfen des BIP würde dagegen Arbeitsplätze, Wohlstand und Akzeptanz von Klimaschutz gefährden und die Leute zu rechtsextremen Parteien wie der AfD drängen.

Diskreditierung der Wissenschaft

In deutschen Leitmedien wird diese Argumentation überwiegend in konservativen Zeitungen wie der Frankfurter Allgemeinen (FAZ) und der Welt und am stärksten in Wirtschaftsressorts und von Männern vertreten, wie meine Auswertung zeigt. Dabei bemühen die Autorinnen und Autoren häufig rhetorische Techniken wie Metaphern. Aus der Kognitionswissenschaft ist bekannt, dass solche sprachlichen Rahmungen – auch Frames genannt – teilweise unbewusst die Meinung zu einem Thema beeinflussen können. »Wachstum« – selbst ein Frame, mit dem das BIP positiv belegt ist – wird metaphorisch mit »Wohlstand«, »Freiheit« und der menschlichen »Natur« assoziiert. Während einige Journalistinnen und Journalisten durchaus ausgewogen diskutieren, überwiegen Erzählungen, die Degrowth als Rezession und Verzicht darstellen. Manche betrachten Degrowth sogar als eine Art Feindbild. Jene Forschenden und Klimaaktivistinnen, die den »Kuchen schrumpfen«, die »Handbremse« anlegen oder eine Art »Klimalockdown«, »Ökodiktatur« oder »autoritäres Regime« verhängen wollen, werden als »Feinde des Liberalismus«, »Esoteriker«, »Öko-Puritaner« oder sogar »Neo-Maoisten« beschrieben (siehe Zitate/Tabellen).

Solche Diskreditierungen sind nicht nur fragwürdig im Hinblick auf journalistische Ethik und Qualität, sondern auch nicht auf der Höhe der aktuellen Klimaforschung: Neueste Studien zeigen, dass selbst die vorbildlichsten Länder ihre CO₂-Emissionen im Sinne des Pariser Klimaabkommens viel zu wenig gesenkt haben. Sie bräuchten durchschnittlich über 220 Jahre, um ihre Emissionen um 95 Prozent zu senken, und würden dabei das 27-fache ihres fairen CO₂-Budgets ausstoßen. Das ist nicht nur ungerecht, sondern angesichts drohender unumkehrbarer Kipppunkte im Erdsystem auch brandgefährlich. Beim Ressourcenverbrauch ist es sogar noch extremer: Misst man nicht den inländischen Materialverbrauch, sondern vom Anfang bis Ende der Produktionsketten (Material Footprint), zeigt sich eine starke Korrelation mit dem BIP-Wachstum. Zudem sind die Annahmen der »Grüne-Wachstum-Modellierungen« zweifelhaft: CCS-Technologien sollten und können, wenn überhaupt, nur für unvermeidbare Emissionen eingesetzt werden. Denn sie sind nicht nur sehr teuer, sondern bisher in der angenommenen Größenordnung nicht skalierbar und mit enormen Risiken behaftet – eine gefährliche Wette also.

Einfach die Wirtschaft schrumpfen?

An dieser Stelle beginnt meist das Missverständnis um Postwachstum oder Degrowth: Tatsächlich leiten Forschende aus diesen besorgniserregenden Befunden eben nicht ab, dass wir einfach das BIP schrumpfen sollten. Da unser Wirtschaftssystem abhängig von BIP-Wachstum ist, würde dies in der Tat zu Rezession und weiterem Rechtsruck führen. Der Kern von Degrowth ist vielmehr, gesellschaftliche Institutionen so umzubauen, dass Wohlstand für alle innerhalb planetarer Grenzen ohne steigendes BIP in reichen Ländern möglich ist. So gilt etwa der Wohlfahrtsstaat als wachstumsabhängig. Sozialversicherungssysteme könnten jedoch resilienter aus Quellen finanziert werden, die weniger Schwankungen unterliegen als das BIP, etwa Steuern auf Immobilien, Finanzvermögen, Grundstücke oder hohen Ressourcenverbrauch. Auf den Punkt gebracht geht es um Wachstumsunabhängigkeit.

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Valentin Sagvosdkin

Valentin Sagvosdkin ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HTW Berlin und promoviert an der Europa-Universität Flensburg zu Postwachstum (Narrative in Medien und Industriepolitik). Er ist Research Fellow der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung.

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