zum Inhalt
Das Wirtschaftsmagazin

Russland: Krieg als neues Wachstumsmodell?

Nach dem Ende der Sowjetunion beruhte Russlands Wachstum auf Rohstoffen. Nun soll die Kriegswirtschaft die strukturellen Probleme des Landes lösen.

9 Minuten Lesedauer

Collage: Surplus

Zwei Jahre nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine ist aus der viel beschworenen »Kriegsanpassung« in Russland ein Normalzustand geworden. Die Fabriken laufen rund um die Uhr, staatliche Aufträge sichern volle Auftragsbücher, und die Löhne in der Rüstungsindustrie steigen schneller als in jedem anderen Sektor. Zuletzt stiegen die staatlichen Militärausgaben auf mehr als 7 Prozent des BIP. 2024 wurde fast jeder fünfte Rubel im Staatshaushalt für Waffen und Panzer eingesetzt. Gemessen an der Wirtschaftsleistung und am Staatshaushalt hat Russland eine der am stärksten militarisierten Ökonomien der Welt. Die Gesamtausgaben von über 150 Milliarden US-Dollar werden nur von China (318 Milliarden US-Dollar) und den USA (968 Milliarden US-Dollar) übertroffen. 

Auch in der Struktur der Wirtschaft hat die enorme Aufrüstung für den Krieg erhebliche Auswirkungen gehabt. Nach Berechnungen von Ökonomen der finnischen Zentralbank entfallen über 10 Prozent der industriellen Wertschöpfung auf militärische Güter. Im Maschinenbau liegt der Anteil sogar bei rund 36 Prozent. Der Sektor »Waffen und Munition« hat seine Produktion im Vergleich zur Vorkriegszeit um mehr als 50 Prozent gesteigert. Schätzungsweise 4,5 Millionen Menschen arbeiten direkt oder indirekt im militärisch-industriellen Komplex. Bei einer Erwerbsbevölkerung von 76,5 Millionen Menschen beschäftigt der Militärsektor damit knapp 6 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung. Auch wenn man noch nicht von einer »Kriegswirtschaft« im klassischen Sinne sprechen kann, so lässt sich anhand der Zahlen ein exzessiver Militärkeynesianismus nicht bestreiten, da die Wirtschaft vor allem durch hohe Militärausgaben angekurbelt wird. Der Weg dorthin war jedoch keineswegs vorgezeichnet. Er führte durch Jahrzehnte der wirtschaftlichen Irrungen und Wirrungen, durch Systemumbrüche, Privatisierungsexzesse und einen Rohstoffboom, der die Grundlage der russischen politischen Ökonomie bildet.

Credit: kremlin.ru

Das Scheitern der Transformation

Entscheidend für die Entstehung der oligarchischen und autoritären Strukturen, die die russische Wirtschaft von heute prägen, war das Chaos, das mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion einherging. 1985, als Gorbatschow Parteichef wurde, ahnte noch niemand, welche tiefgreifenden Veränderungen bevorstehen würden. Wie der Historiker Ian Kershaw in seinem Buch Der Mensch und die Macht schreibt, bestand die Annahme, dass »die Sowjetunion trotz aller inneren Schwierigkeiten stabil war und nicht vor dem Zusammenbruch stand.« Die Reformen, die unter den Schlagwörtern Perestroika (Umbau) und Glasnost (Offenheit) von Gorbatschow eingeleitet wurden, nahmen zwischen den Jahren 1987 und 1989 an Fahrt auf. Ein höheres Maß an Dezentralisierung und Liberalisierung sah Gorbatschow als unerlässlich an, um die verkrusteten Strukturen in der Politik und der Wirtschaft aufzubrechen. Ab 1988 geriet ihm der Prozess jedoch außer Kontrolle. »Fortan«, so resümiert Kershaw, »trieb die von ihm selbst ausgelöste Dynamik den Transformationsprozess voran und riss ihn selbst mit«. Im Dezember 1991 musste Gorbatschow seinen Rücktritt bekanntgeben, wenige Tage später wurde die Sowjetunion formell aufgelöst. Kurz gesagt: Gorbatschows wirtschaftliche Reformen trugen erheblich zu den Entwicklungen bei, die letztlich in den politischen Zusammenbruch der Sowjetunion mündeten.

Boris Jelzin übernahm als Präsident der neu gegründeten Russischen Föderation ein Land im politischen und wirtschaftlichen Ausnahmezustand. Unter dem Druck der tiefen Wirtschaftskrise und in enger Abstimmung mit westlichen Beratern, insbesondere aus den USA, Brüssel und den internationalen Institutionen wie dem IWF und der Weltbank (die allein aufgrund des hohen Devisenbedarfs zu Schlüsselspielern wurden), entschied sich Jelzins Regierung für einen radikalen Reformkurs: die sogenannte »Schocktherapie«. 

Im Glauben an den endgültigen Sieg des Liberalismus erschien ein rascher und umfassender Übergang von einer plan- in eine marktwirtschaftliche Ordnung als der einzig richtige Weg. Die Preise wurden auf einen Schlag liberalisiert, staatliche Subventionen gestrichen und umfangreiche Privatisierungen eingeleitet. Die Hoffnung war, durch einen abrupten Systemwechsel im Sinne des »Washington Consensus« Investitionen anzuziehen und das Land auf einen westlich orientierten Modernisierungspfad zu führen. Tatsächlich aber stürzte die Schocktherapie die russische Wirtschaft in eine Phase tiefgreifender Instabilität, die das Verhältnis der Menschen zur jungen Demokratie und ihre Erinnerung an die Sowjetzeit nachhaltig prägen sollte. 

Credit: IMAGO / Karo

Die Entwicklung von Schlüsselindikatoren veranschaulicht das Ausmaß der Disruption, des Chaos und der Zerstörung, die die vom Westen maßgeblich mitgestaltete Schocktherapie anrichtete. Das reale Pro-Kopf-Einkommen, das bereits 1990 und 1991 um 3 Prozent beziehungsweise 5 Prozent schrumpfte, kollabierte im ersten Jahr von Jelzins Amtszeit: 1992 ging es um 15 Prozent nach unten. Dieser Abschwung setzte sich in den Folgejahren fort: 1993 sank das Pro-Kopf-Einkommen um weitere 9 Prozent, 1994 um 13 Prozent, 1995 um 4 Prozent, 1996 um 4 Prozent. 

Nach sieben Jahren des wirtschaftlichen Niedergangs deutete sich 1997 erstmals eine leichte Erholung an. Doch bereits im folgenden Jahr traf es Russland erneut: Die Rubelkrise – ausgelöst durch exzessive Finanzmarktspekulationen und Kapitalflucht (beides war ein Ergebnis der »Liberalisierung der Kapitalmärkte«) – ließ die russische Währung kollabieren, trieb die Inflation in die Höhe und führte zu einem Staatsbankrott. Während sich viele westliche Finanzinstitute durch die Geschäfte bereichern konnten, brach in Russland das Finanzsystem zusammen, Banken gingen reihenweise pleite und Ersparnisse wurden vernichtet. Das Pro-Kopf-Einkommen sank erneut um 5 Prozent. Am Ende der 1990er stand somit eine vernichtende Bilanz: Zwischen 1989 und 1998 ist das Einkommen um sagenhafte 44 Prozent gesunken – von 8.100 US-Dollar auf 4.500 US-Dollar (siehe Abbildung 1). 1999 betrug das kaufkraftbereinigte Pro-Kopf-Einkommen gerade einmal 25 Prozent des globalen Durchschnitts. Es sollte bis 2007 – also nahezu 20 Jahre – dauern, ehe das Einkommensniveau von 1989 wieder erreicht wurde.

Auch hinsichtlich der Arbeitslosigkeit und Inflation hatte die Schocktherapie verheerende Folgen. In der ersten Dekade nach der Liberalisierung kannte die russische Bevölkerung nichts anderes als eine stetig ansteigende Arbeitslosigkeit. Von 5 Prozent im Jahr 1991 folgte bis 1999 ein Anstieg auf über 12 Prozent. 

Die Inflation wiederum, die sich durch die Freigabe der Preise in die Stratosphäre schraubte, entwertete die wenigen verfügbaren Ersparnisse und machte einen geordneten Übergang in eine Marktwirtschaft unmöglich. Abbildung 3 zeigt die Inflationsraten in unterschiedlichen Zeitabschnitten, da die Ausschläge es ansonsten unmöglich machen, die Dynamik zu erfassen. Vor allem zu Beginn der Schocktherapie, mit dem »Big Bang« der Liberalisierung, schnellten die Preise in die Höhe: 1992 betrug die Inflation 1500 Prozent, 1993 waren es 900 Prozent, 1994 300 Prozent, 1995 150 Prozent und 1996 immer noch 50 Prozent. Die Rubelkrise von 1998 sorgte für einen weiteren Preisschub von über 70 Prozent. 

Jetzt mit kostenloser Probewoche weiterlesen:

Zur Probewoche

Gibt’s schon einen Account? Login

Patrick Kaczmarczyk

Dr. Patrick Kaczmarczyk ist Ökonom an der Universität Mannheim und Redakteur bei Surplus. Zuletzt war er Leiter für volkswirtschaftliche Grundsatzfragen beim Wirtschaftsforum der SPD und UNO-Berater.

#6 – Waffen oder Wohlstand

Die Rüstungsindustrie boomt, während beim Sozialen gekürzt wird. Das ist kein Wirtschaftsmodell der Zukunft.

Zum Magazin