Nach dem Finanzpaket und der massiven Reform der Schuldenbremse konnte man für einen kurzen Augenblick den Eindruck gewinnen, die deutsche Wirtschaftspolitik habe nach Jahrzehnten neoliberaler Verirrungen zu einer Art von makroökonomischer Vernunft zurückgefunden. Natürlich gibt es kritische Punkte bei der finanzpolitischen Strategie des Koalitionsvertrages, und selbstverständlich ist das Finanzpaket kein Allheilmittel. Dennoch ermöglicht insbesondere das Sondervermögen für Infrastruktur und Klimaschutz massive kreditfinanzierte öffentliche Investitionen und gibt der von Corona und Energiekrise seit Jahren schwer getroffenen deutschen Konjunktur endlich den nötigen Anschub. Der noch vor der Sommerpause verabschiedete Investitionsbooster dürfte vor allem wegen der stark vergünstigten steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten auch die privaten Unternehmensinvestitionen ankurbeln. Die Bundesregierung war dabei sogar so vernünftig, Ländern und vor allem Kommunen die durch den Booster entstehenden Steuerausfälle vorübergehend zu ersetzen. Damit wurde zumindest kurzfristig die zentrale Sorge abgeräumt, Länder und Kommunen würden wegen der steuerlichen Entlastungen in eine kontraproduktive Kürzungspolitik gezwungen und kommunale öffentliche Investitionen müssten gekürzt werden.
Mit der finanzpolitischen Strategie der Bundesregierung wird nicht nur die Nachfrage insgesamt angekurbelt, sondern auch stärker auf binnenwirtschaftliches Wachstum gesetzt, was angesichts der geopolitischen Entwicklung und Trumps Zollpolitik ein wichtiger Schritt weg vom offensichtlich immer riskanteren, exportlastigen deutschen Wirtschaftsmodell ist. Eigentlich läuft also aktuell ganz viel richtig, und Politik und Wirtschaft könnten sich nun an die möglichst zügige Umsetzung der öffentlichen Investitionsoffensive machen. Sie könnten sich über die Stimmungsaufhellung in der Wirtschaft freuen und mit optimistischen Botschaften weiter zur Aufhellung des Investitionsklimas beitragen. In diesem Sinne könnte wohlwollend auch der jüngste »Investitionsgipfel« im Kanzleramt interpretiert werden.
Strukturreformen mit der Kettensäge?
Doch so ist es leider nicht. Stattdessen überbieten sich Politik, Wirtschaftslobby, konservative Ökonomen und Wirtschaftspresse mit den im deutschen Diskurs üblichen düsteren Mahnungen und Warnungen. Mit Grabesstimme und erhobenem Zeigefinger wird vor den Risiken der Staatsverschuldung gewarnt, vor einem lediglich konjunkturellen Strohfeuer durch das Finanzpaket, das ohne tiefgreifende und möglichst schmerzhafte »Strukturreformen« niemals in dauerhaftes Wirtschaftswachstum münden könne.
Gemeint ist der seit Jahrzehnten immer gleiche Strukturreform-Dogmatismus: Im Wesentlichen geht es um Deregulierung, Schwächung von Arbeitnehmerrechten und Gewerkschaften, Kürzungen bei öffentlicher Daseinsvorsorge und vor allem Sozialabbau – und das bei gleichzeitigen Steuersenkungen für Unternehmen und Wohlhabende. In gewisser Weise ist der Begriff »Strukturreformen« die deutsche Variante der Kettensäge. Bemerkenswert ist dabei die fehlende Einfühlsamkeit der Strukturreform-Verfechter an der Spitze der Einkommens- und Vermögensverteilung, die offenbar um die Schmerzhaftigkeit ihrer verschriebenen Rosskur wissen, ohne dabei allerdings selbst direkte Schmerzen leiden zu müssen. Im Gegenteil: Durch weitere Steuerentlastungen würden sie noch reicher.
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Doch von der verteilungspolitischen und moralischen Fragwürdigkeit der Strukturreformforderungen ganz abgesehen, sind sie auch ökonomisch höchst fragwürdig, beispielsweise beim angeblich maßlosen Sozialstaat, bei dem es nun angeblich dringend schmerzhafter Kürzungen bedürfe. Natürlich sollten sozialstaatliche Regelungen immer daraufhin überprüft werden, ob sie zielgenau sowie gerecht ausgestaltet sind und ob keine gravierenden Nebenwirkungen von ihnen ausgehen. Niveau und Entwicklung des deutschen Sozialstaats insgesamt sind jedoch sowohl im zeitlichen als auch im internationalen Vergleich unauffällig. Der deutsche Sozialstaat sticht nirgendwo als »übermäßig« oder gar »maßlos« heraus. Zudem ist es völlig falsch, den Sozialstaat zum bloßen Kostenfaktor zu degradieren, den Politik und Gesellschaft sich nur leisten könnten, wenn es der Wirtschaft gerade gut gehe.
Der Sozialstaat schwächt nicht die Wirtschaft, sondern stärkt sie
Tatsächlich hat der Sozialstaat auch wesentliche positive ökonomische Effekte. Er kann produktivitätssteigernd sein, den Strukturwandel unterstützen und abfedern sowie zur gesamtwirtschaftlichen Stabilisierung beitragen, indem er sich selbst verstärkenden Krisentendenzen entgegenwirkt. Damit ist der Sozialstaat ökonomisch unzweifelhaft gerechtfertigt und wird gerade in der aktuellen Lage nicht nur aus sozialen, sondern auch aus ökonomischen Gründen gebraucht. Die deutsche Wirtschaft leidet zum einen unter der ungewöhnlichen Schwäche der Exporte. Zum anderen leidet sie maßgeblich unter einer hartnäckigen Schwäche des privaten Konsums. Obwohl die Reallöhne seit einiger Zeit wieder zunehmen, bleibt der private Konsum ungewöhnlich verhalten. Offenbar ist die Verunsicherung der Menschen nach Corona, Energiekrise und Ampel-Aus groß, weshalb sie sich bei ihren Ausgaben zurückhalten. Es braucht schon ein bemerkenswertes Desinteresse an der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, um in einer solchen Situation eine grundlegende Strukturreform- und Sozialstaatsdebatte anzuzetteln und wie jüngst Bundeskanzler Friedrich Merz die Bürgerinnen und Bürger auf größere Belastungen einzustimmen. Denn damit werden die Menschen noch weiter verunsichert und die Aussichten auf eine Belebung der Nachfrage der Verbraucher weiter eingetrübt. Dabei stellt der private Konsum mit 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes das größte gesamtwirtschaftliche Aggregat dar. Gut möglich also, dass die Mahnungen und Warnungen der Strukturreformer das Konsumklima vergiften und damit die konjunkturelle Erholung wesentlich dämpfen.
Eine konsistente Politik, die sich um einen Aufschwung auf breiter Front bemüht, müsste stattdessen nicht nur – wie jüngst beim »Investitionsgipfel« – um Finanzinvestoren buhlen, sondern der verunsicherten Bevölkerung in der Breite eine positive wirtschaftliche und soziale Perspektive bieten. Sie müsste einen stabilen Sozialstaat und eine Verbesserung der öffentlichen Daseinsvorsorge bei Infrastruktur und Bildung in den Mittelpunkt stellen. Genau dafür bietet das Finanzpaket wesentliche Chancen. Die Politik muss ihren Strukturreform-Dogmatismus überwinden und die Chance entschlossen ergreifen.