Der Staat ist böse. Und nicht nur das, er hindert den Menschen daran, sein volles Potenzial zu entfalten. Deswegen muss seine Rolle so klein wie möglich gehalten sein. Der entfesselte Kapitalismus aber ist die Moral, die uns Menschen führen soll. Nicht als Kollektiv, sondern als rationale Individuen, die Entscheidungen allein für sich treffen. Soziale Politik, kollektivistische Ideen oder gar Altruismus gilt es zu bekämpfen. Und wer sind die Helden einer solchen Welt? Natürlich die Milliardäre. Jene CEOs und Unternehmer, die die Menschheit schon immer vorangebracht und ihr Reichtum und Prosperität geschenkt haben.
Was nach Satire klingt, ist keine. Die Ideologie eines moralisch begründeten Laissez-faire-Kapitalismus fußt auf dem philosophischen Unterbau der Autorin Ayn Rand und beeinflusst die westliche Wirtschaft bis heute. Ihre Werke, allen voran die Romane Atlas Shrugged und The Fountainhead (auf Deutsch »Atlas wirft die Welt ab« und »Der ewige Quell«), haben weit über 30 Millionen Exemplare verkauft, ein Institut begründet und zahlreiche kulturelle Produkte beeinflusst. Ihre Ideen lesen sich wie die kühnsten Träume eines Javier Milei: Der Wohlfahrtsstaat soll nicht nur radikal gekürzt, sondern gänzlich abgeschafft werden. Jeder erdenkliche Lebensbereich soll privatisiert und der Marktlogik unterworfen sein. Der Staat als solcher ist nicht mehr existent und soll nur noch vor Gewalt und Betrug schützen. Arbeitnehmerrechte und Care-Arbeit sind, wenn überhaupt, nur optional. Das mag nach einer unausweichlichen humanitären Katastrophe klingen, ist für Rand und ihre Leserschaft aber ein utopischer Zustand. Selbst die USA und Argentinien sind davon (noch) weit entfernt.
Theorie im Spiegel des Sowjet-Traumas
Rand selbst stammte aus Russland und erlebte im Alter von zwölf Jahren die Oktoberrevolution 1917 und die Lebensmittelknappheit im heutigen St. Petersburg. Die Apotheke ihrer Familie wurde in diesem Zuge verstaatlicht. 1926 emigrierte sie in die USA, begann als Drehbuchautorin in Hollywood und nahm fünf Jahre später die Staatsbürgerschaft an. Für ihre literarische Karriere nahm sie das Pseudonym »Ayn Rand« an und kehrte damit ihrer russischen Herkunft und dem Namen Alissa Sinowjewna Rosenbaum den Rücken.
Doch ihre traumatischen Erfahrungen eines im Umbruch liegenden Russlands sollten ihre Denkweise und Schriften weiterhin prägen. Alles, was sich heute auch nur entfernt als »links« bezeichnen lässt, war ihr zuwider. Mit ihrer Denkschule des »Objektivismus« argumentierte sie für einen ethisch vertretbaren Egoismus, in dem Eigentum selbst zu etwas Moralischem wird. Was auch immer der Mensch entscheidet – ökonomisch, zwischenmenschlich, moralisch –, er muss stets sein eigenes Wohl wählen. Weil sie in Sozialprogrammen einen staatlichen Eingriff und damit auch einen Angriff auf das Individuum sah, lehnte sie diese stets ab. Ihre Ideologie erlaubt zwar Hilfe, aber nur dann, wenn es die rationale und freiwillige Entscheidung eines Einzelnen ist.
Für ihren Objektivismus sah sie den humanistischen Philosophen Immanuel Kant als ideologisches Gegenstück und Feindbild. Kant sei »der bösartigste Mann in der Menschheitsgeschichte«, sicherlich auch wegen seines kategorischen Imperativs. Dieser besagt, dass jeder moralisch so handeln sollte, dass diese Handlung ein allgemeingültiges Gesetz werden kann. Für Rand war das ein Schritt in Richtung Kollektivismus und eine Zerstörung des rationalen Denkens. In Die Tugend des Egoismus argumentiert sie, dass Kant durch seine Ideologie moralische Handlungen bewertet und sich damit von einem rationalen Individuum entfernt. Rand verortet ihren Egoismus wiederum im Kapitalismus, dem angeblich einzig rationalen ökonomischen System. Der Profit wird zum moralischen Konstrukt, der Egoismus zum Antrieb.
