In einer bemerkenswerten Rede hat der frühere Direktor der Europäischen Zentralbank und italienische Premierminister Mario Draghi weitreichende Reformen der Europäischen Union (EU) gefordert, um der neuen geopolitischen Realität gerecht zu werden. Die Rede hielt er am vergangenen Freitagabend bei der Konferenz »Rimini Meeting 2025« in der gleichnamigen Stadt. Seine Bemerkungen schließen an seinen vielbeachteten Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit der EU an, den er im letzten Jahr im Auftrag der EU-Kommission präsentierte. Er forderte eine vertiefte europäische Integration und Kooperation in der Wirtschaftspolitik, um sich aus geoökonomischen Abhängigkeiten zu lösen und Europas Wohlstand und Souveränität zu erhalten.
Der Ausgangspunkt seiner auf Italienisch gehaltenen Rede war die Feststellung, dass geopolitische Entwicklungen die »Illusion« der EU aufgelöst hätten, dass ökonomischer Einfluss gleichbedeutend mit geopolitischer Macht sei. Das machte er an verschiedenen Beispielen fest: Die EU werde von den USA »dazu gedrängt«, die Militärausgaben »auf eine Art und Weise zu erhöhen, die ihren Interessen nicht entsprechen« würde. Sie gerate in immer größere Abhängigkeiten von chinesischen Rohstoffen und Technologien. Und sie habe nur »tatenlos zugeschaut, als Irans Nuklearanlagen bombardiert wurden und sich das Massaker in Gaza verschärfte.«
Vor diesem Hintergrund hält Draghi die steigende EU-Skepsis für »wenig überraschend«. Diese Skepsis gelte aber nicht für die Werte, auf denen sie gegründet wurde, sondern auf »die Fähigkeit der EU, diese Werte zu verteidigen«. Die vergangene historische Epoche, die Draghi als »neoliberal« bezeichnet, sei von einem Glauben an Märkte, eine regelbasierte Ordnung und einem Rückzug des Staates geprägt worden. Es sei für die EU »leicht« gewesen, sich »diesen Bedingungen anzupassen«. Diese hätten jedoch keinen Bestand mehr in der neuen Welt, die von der Verfolgung nationaler Interessen, großflächiger Industriepolitik und militärischer Machtausübung charakterisiert sei. Vergangene Erfolge seien somit keine verlässliche Richtschnur für die Zukunft.