Damit die Ungleichheit sinnvoll erforscht werden kann – damit das im Vorwort definierte Kriterium erfüllt werden kann, dass sie ein integrierendes Studium der Einkommensverteilung sein muss –, muss diese Forschung drei Merkmale aufweisen. Erstens muss sie erklären, wie Ungleichheit entsteht und welches (nach Ansicht des Autors) die wichtigsten Faktoren oder Kräfte sind, die sie vergrößern. Mit anderen Worten, die Forschung muss von einer politisch oder ökonomisch motivierenden Geschichte ausgehen. In sämtlichen klassischen Arbeiten, die wir hier untersucht haben, finden wir eine solche Geschichte. Zweitens muss der Autor eine Theorie entwickeln, die seiner Geschichte entspricht. Diese Theorie muss nicht unbedingt mathematisch formuliert werden und wird es oft nicht – nicht einmal von moderneren Autoren wie Kuznets –, aber sie muss die Beziehungen zwischen den relevanten Variablen skizzieren. Drittens müssen die theoretischen und narrativen Behauptungen empirisch »verifiziert« werden. Den Arbeiten der klassischen Autoren mangelte es oft an Empirie, was einfach daran lag, dass es die für empirische Arbeit erforderlichen Daten nicht gab. Aber heute sind solche Daten ein unverzichtbarer Bestandteil einer erfolgreichen Auseinandersetzung mit der Ungleichheit. Mit Blick auf diese drei Elemente werde ich jetzt untersuchen, wie die Einkommensverteilung in der Epoche, die Mitte der sechziger Jahre begann und im Jahr 1990 endete, in den sozialistischen und kapitalistischen Volkswirtschaften erforscht wurde.
Zunächst müssen wir kurz über den historischen Kontext sprechen. Zwischen den beiden Weltkriegen entwickelte sich die Erforschung der Einkommensverteilung in erster Linie abhängig von den Wechselfällen der Politik, während ökonomische Erwägungen geringeren Einfluss auf dieses Forschungsgebiet hatten. Jene Zeit war politisch außerordentlich turbulent: In Russland und China waren Revolutionen erfolgreich, in Deutschland und Ungarn scheiterten Revolutionen, fünf Großreiche lösten sich auf, in China, Indien, Vietnam und Indonesien begann der antikolonialistische Kampf, in Europa und Japan brach sich der Faschismus Bahn. Obwohl die Auslöschung von Eigentum und Menschenleben in den kriegführenden Ländern im Ersten Weltkrieg die Armut vergrößert und neue Ungleichheit erzeugt hatte, wurden keine systematischen Studien der Einkommensverteilung vorgelegt. Tatsächlich nahm das Interesse an Themen wie diesem sogar ab. Der heutige Beobachter gewinnt den Eindruck, dass zwischen 1918 und 1937-39 einfach alles zu schnell geschah und eine Krise auf die andere folgte. Auf die Hyperinflation folgte die Depression, auf die Depression die nativistische Politik, auf die nativistische Politik der Krieg. Es gab kaum Zeit, um sich genauer mit den neuen Formen von Ungleichheit zu beschäftigen; lediglich in der Sowjetunion wurden die Klassenbeziehungen und in der Folge auch die Frage der Ungleichheit gründlicher untersucht, was bedeutsame und gewaltsame politische Folgen hatte. [...]
Wann immer angenommen wird, dass die Klassengrenzen feststehen oder bedeutungslos sind, verschwindet das Studium der interpersonalen Einkommensverteilung aus dem Blickfeld. Dafür gibt es einen nachvollziehbaren Grund: Die Verteilung der Faktoreinkommen kann stabil sein, während sich sowohl die Verteilung der Lohneinkommen als auch jene der Kapitaleinkommen (und die Haushaltsformation, die beide miteinander verbindet) verändert. Doch während das formal zutrifft, werden wir sehen, dass die Versuche, die Bedeutung der Klasse herunterzuspielen, oder die Wunschvorstellung, es gebe keine Klassen mehr, die Erforschung der Einkommensverteilung verkrüppelte, marginalisierte und überflüssig machte. Wenn die Klassenanalyse und die Rolle des Kapitals ignoriert werden, wird auch die Einkommensverteilung ignoriert. Genau das geschah nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Wettbewerb zwischen Kommunismus und Kapitalismus die Wirtschaftswissenschaft auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs in den Dienst der herrschenden Ideologie stellte. Beide Lager teilten die Überzeugung, dass die Klassen in ihrem eigenen System der Vergangenheit angehörten, dass es keine Klassengegensätze mehr gebe und dass eine Beschäftigung mit der Einkommensverteilung im Grunde irrelevant sei. Sie dachten, es gebe nicht viel zu untersuchen.
Martin Bronfenbrenner hat in der Tabelle 7.1., die ich hier wiedergebe, die drei maßgeblichen Einschätzungen der Verteilungsprobleme anschaulich zusammengefasst. Sowohl die Kapitalisten (oder neoklassischen Ökonomen) als auch die Marxisten glauben, dass es keinen Grund mehr gibt, sich Gedanken über unterschiedliche Löhne zu machen oder die Einkommensverteilung als wichtige Frage zu betrachten, sobald geeignete Institutionen errichtet sind (im Fall der Kapitalisten ein freier Markt und die Unverletzlichkeit des Eigentums, im Fall der Marxisten die Abschaffung des Privateigentums). Und im Kalten Krieg verschwand die Forschung zu diesen Themen in beiden Systemen. [...]

So beseitigte die Abkehr von der klassenbezogenen Analyse das Interesse an der Einkommensverteilung. Es stimmt, dass eine neue Klassenstruktur an die Stelle der alten Klassen trat, aber die kommunistischen Machthaber waren nicht bereit, eine Auseinandersetzung mit dieser Realität zu fördern oder auch nur zu dulden. Eine Kombination von »objektiven« Faktoren (die Beseitigung der traditionellen grundbesitzenden Klasse) und »subjektiven« Faktoren (eine politische Diktatur, die der Idee einer klassenlosen Gesellschaft verpflichtet war und in der Erforschung der Ungleichheit eine ideologische Waffe sah, die gegen sie eingesetzt werden könnte) machte jeglicher ernsthaften Auseinandersetzung mit der Einkommensungleichheit in den sozialistischen Ländern ein Ende.