Wer in den 1950er-Jahren über den beschaulichen Campus der Universität Cambridge in England schlenderte, wurde dabei oft von einer schattenhaften Gestalt mit aufmerksamem Blick beobachtet. Die Präsenz des Herren, der auch im Sommer stets einen schwarzen Mantel, Mütze und Schal trug, löste unter den Studenten Diskussionen aus. Wer war er und was machte er an der Universität?
Nachforschungen brachten nur wenig Licht ins Dunkle. Offenbar war der Mann Italiener, hieß Piero Sraffa und war seit Jahrzehnten gewählter Fellow am Trinity College. Seine letzte Forschungsarbeit hatte er allerdings im Jahr 1926 veröffentlicht und auch sonst hielt er keine Vorlesungen. Die Studierenden dachten daher zunächst, er sei ein unproduktives Überbleibsel einer vergangenen Epoche, als die Uni noch ein exklusiver gentlemen’s club war. Erst später erkannte einer von ihnen, ein gewisser David Harvey, dass Sraffa zu der Zeit gerade sein Hauptwerk Warenproduktion mittels Waren abschloss, welches das Fundament ökonomischen Denkens erschütterte: die Werttheorie.
Dieses schmale und trockene Buch, das 1960 erschienen ist, ist bis heute – wie sein Autor – schwer zu fassen. Mit über 30 Jahren Entstehungszeit ist es einer der am längsten gereiften Beiträge der ökonomischen Theorie überhaupt. Es ist in der Tat ein Werk aus einer vergangenen Epoche, das heutzutage wegen des wissenschaftlichen Publikationsdrucks mit einer Schreibgeschwindigkeit von knapp über drei Seiten pro Jahr so nicht mehr verfasst werden könnte.
Sraffa ging es um nicht weniger als eine Fundamentalkritik der Neoklassik und eine Renaissance des »verdrängten und vergessenen« Ansatzes der klassischen Ökonomik von Adam Smith, David Ricardo und Karl Marx. An der Stelle von Robinson Crusoe, der auf seiner einsamen Insel mit Freitag Kokosnüsse tauscht – der Mythos der Neoklassik – begegnet uns hier der Machtkampf der gesellschaftlichen Klassen über das Surplus (Überschuss, Mehrprodukt) der Produktion. Doch der Reihe nach: Wer war Sraffa und wieso war für ihn das »Studium des Surplus das wahre Objekt der Ökonomik«?
Eine Freundschaft, die Geschichte schrieb
Piero Sraffa wurde 1898 in eine reiche jüdische Familie in Turin geboren, einer zu der Zeit aufstrebenden Industriestadt. Sein Vater Angelo Sraffa war Wirtschaftsjurist und jahrelang Dekan der Universität Bocconi in Mailand. Pieros frühes Leben war von vielen Umzügen und Reisen geprägt; erst in seinen Dreißigern, in Cambridge, blieb er dauerhaft an einem Ort. Durch einen gemeinsamen Lehrer lernte Sraffa an der Universität Turin den Sarden Antonio Gramsci kennen, der sich als wortgewandter Schreiber und Aktivist der lokalen Arbeiterbewegung einen Namen gemacht hatte. Nach Ende des Ersten Weltkriegs war in der Stadt der riesigen FIAT-Werkshallen der offene Klassenkampf ausgebrochen. Streiks, Demonstrationen und gar Fabrikbesetzungen waren an der Tagesordnung – und die Arbeiter schienen zu gewinnen.
In seiner Zeitschrift L’Ordine Nuovo (Die Neue Ordnung) schrieb Gramsci 1919 noch vom Ende des Kapitalismus durch die straff organisierte Arbeiterklasse. Sraffa, sein »besonderer Korrespondent«, unterstützte ihn mit einigen Übersetzungen und Berichten, während er sich an der London School of Economics aufhielt. Dort begegnete er dem damals schon weltberühmten Ökonomen John Maynard Keynes, der seinen Werdegang entscheidend beeinflussen würde. Doch schon wenig später hatte sich der Wind gedreht: 1922 putschte sich Benito Mussolini in der faschistischen Gegenrevolution an die Macht. Als Erstes machte er sich daran, die Kommunisten, Sozialisten und ihre Sympathisanten zu verfolgen. Sraffa und Gramsci gerieten, wie unzählige andere, ins Fadenkreuz des Staates.
Zusätzlichen Ärger mit dem Duce handelte sich Sraffa mit einer Analyse der italienischen Bankenkrise ein, in der er sich regimekritisch äußerte: »Aber selbst wenn diese Gesetze an sich nicht sinnlos wären, was könnten sie nützen, solange die Regierung bereit ist, sie als erste zu brechen, sobald sie von einer Bande von Bewaffneten oder einer Gruppe dreister Finanziers erpresst wird?« Brisant war, dass er – von Keynes angefragt – diese Sätze auf Englisch für ein internationales Publikum geschrieben hatte. Mussolini sorgte sich um das Vertrauen in italienische Banken und forderte seinen Vater Angelo dazu auf, Piero vom Rückzug der Schrift zu überzeugen – vergeblich. Die hohe Stellung als Wissenschaftler schützte die Sraffas noch vor den Faschisten.

Gramsci hatte nicht so viel Glück: 1926, zwei Jahre nach seiner Ernennung zum Generalsekretär der kommunistischen Partei, wurde er verhaftet und begann eine lange und qualvolle Zeit in den Kerkern des Diktators. Sraffa war davon erschüttert und half ihm, wo er nur konnte. Er schmuggelte für Gramsci bis zu dessen Tod 1937 Bücher, Stifte und Hefte aus den Gefängnissen ein und aus. So half Sraffa mit, Gramscis berühmte Gefängnishefte für die Nachwelt aufzubewahren. 1927 wurde auch für ihn in Italien die Luft zunehmend eng. Dank der Verbindungen zu Keynes, der ihn für »a man of unusual ability and originality« hielt und sich für den Ärger durch den regimekritischen Artikel verantwortlich fühlte, wurde ihm eine Professur in Cambridge angeboten.