Die Deutschen sollen mehr arbeiten. Das sagen nicht nur Bundeskanzler Friedrich Merz, der Deutsche Bank-CEO Christian Sewing, der Ministerpräsident Baden-Württembergs Winfried Kretschmann und die Bundesvereinigung der Arbeitgeber (keine Überraschung). Arbeitszeitverkürzung steht derzeit weniger denn je als realistische Option zur Verhandlung. Auch die Gewerkschaften Verdi und IG Metall sind mittlerweile von Forderungen nach einer Vier-Tage-Woche abgerückt. Doch es gibt gute Gründe, weshalb kürzere Arbeitszeiten – zum Beispiel 32 Stunden pro Woche – nicht nur gut für das Leben, sondern auch wirtschaftspolitisch als realistische Utopie angebracht sind.
1. Die Utopie
Die Utopie ist alt: Bereits im Jahr 1930 stellte John Maynard Keynes in Economic Possibilities for our Grandchildren die Prognose auf, dass Menschen in 100 Jahren, also im Jahr 2030, nur noch 15 Stunden pro Woche arbeiten würden. Ein »Zeitalter der Freizeit und des Überflusses« würde eintreten, nachdem Produktivitätszuwächse durch die Industrie und Technologie den Menschen ermöglichen würden, bei gleichbleibendem Lebensstandard weniger zu arbeiten. Zu diesem Zustand zu gelangen, sei aber nicht einfach, sagte Keynes: »Denn wir sind schon zu lange darauf trainiert worden zu streben und nicht zu genießen.« Ein Recht auf Faulheit forderte bereits im 19. Jahrhundert ein französischer Sozialist namens Paul Lafargue ein. Seiner Vorstellung nach sollte es ein Gesetz geben, »das jederman verbietet, mehr als drei Stunden pro Tag zu arbeiten«.
Die beiden Positionen entstanden in Zeiten, in denen 12-Stunden-Tage nicht selten und Arbeitszeiten oft unreguliert waren. Doch Lafargue und Keynes zeichnen das Bild einer Zukunft, beziehungsweise mittlerweile Gegenwart, in der der produzierte Mehrwert gerechterweise zu Mehrwert im Leben der Menschen überführt wird – nicht in Form von mit dem Lohn gekauften Statussymbolen, sondern in Form von menschlichen Beziehungen, physischer Aktivität, Erholung, freier Bildung.
2. Die Theorie
Nun ist das Jahr 2030 nur noch fünf Jahre entfernt und die von Keynes prognostizierte Produktivitätssteigerung ist sogar in noch höherem Maße, als er es erwartet hatte, eingetreten. Zwischen 1991 und 2024 ist dem Statistischen Bundesamt zufolge die Arbeitsproduktivität (das preisbereinigte BIP pro Stunde Arbeit) in Deutschland auf einem Index von 68,96 auf 100,66 Punkte, also um ganze 46 Prozent, gestiegen. Die Menschen produzieren im Zeitverlauf immer mehr Waren und Dienstleistungen in immer weniger Zeit.
Steigt die Produktivität, erhöhen sich Outputs für gegebene Inputs wie Material und Arbeitszeit. Der dadurch entstandene Überschuss kann für verschiedene Zwecke genutzt werden: für höhere Löhne beziehungsweise kürzere Arbeitszeiten – oder aber für höhere Profite und niedrigere Preise. Wofür dieser Überschuss genutzt wird, hängt konkret von der Verhandlungsmacht zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Konsumenten ab.
Historisch spiegelte sich mehr Produktivität nicht in weniger Arbeitsstunden wider, im Gegenteil sind die insgesamt geleisteten Stunden in den europäischen Ländern seit den 1980er-Jahren im Zuge des Neoliberalismus wieder gestiegen. Insgesamt wurden in Deutschland im Jahr 2024 61.371 Millionen Stunden Arbeit geleistet – im Jahr 1991 waren es noch 48.730 Millionen Stunden, 1970 noch 52.285 Millionen.
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