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Das Wirtschaftsmagazin

8-Stunden-Tag: Arbeit braucht Grenzen

Die neue Bundesregierung will die tägliche Höchstarbeitszeit aufweichen. Das würde die Arbeit gefährlich entgrenzen.

4 Minuten Lesedauer
Demonstrierende haben am diesjährigen 1. Mai gefordert, die tägliche Höchstarbeitszeit beizubehalten. Credit: IMAGO/IPON

Laut Koalitionsvertrag will Schwarz-Rot »die Möglichkeit einer wöchentlichen anstatt einer täglichen Höchstarbeitszeit schaffen«. Damit hat eine alte Forderung der CDU/CSU – und der Arbeitgeberverbände – Eingang gefunden. Es geht um mehr Bock auf Arbeit. In der letzten Legislatur gab es keine Mehrheit für einen entsprechenden Antrag, den die Unionsfraktion zuletzt im April 2024 eingebracht hatte. Schon damals wie auch jetzt bezog und bezieht sich die Argumentation auf das europäische Recht: Die europäische Richtlinie zur Arbeitszeit regelt explizit nur Mindestanforderungen. Sie sieht als Obergrenze eine wöchentliche Höchstarbeitszeit vor. Ihr zufolge müssen Mitgliedsstaaten der EU sicherstellen, dass die durchschnittliche Arbeitszeit pro Siebentageszeitraum 48 Stunden einschließlich der Überstunden nicht überschreitet. 

Das Leben braucht auch täglich Zeit

Unser Arbeitszeitgesetz sieht dagegen den Achtstundentag als Regel und damit tägliche Höchstgrenzen vor. Das ist nicht irgendeine gesetzliche Regelung: Der Achtstundentag gehört zu den ältesten Forderungen der Arbeiterbewegung und ist eine ihrer größten Errungenschaften. In Deutschland ist der Achtstundentag seit 1918 gesetzlich festgehalten. Er steht für ein Leben, in dem für alle Menschen neben Erwerbsarbeit ausreichend Zeit zum »Leben, Lieben, Lachen« ist, wie einst der gewerkschaftliche Slogan hieß. Diese Bedürfnisse haben Menschen täglich – deswegen muss auch für eine tägliche Grenze der Arbeit gesorgt werden. Nichts davon hat durch den Wandel der Arbeitswelt an Bedeutung verloren. Menschen wünschen sich auch heute noch ein Leben, in dem Familie, Erholung, Selbstfürsorge und Ehrenamt ausreichend Platz neben Erwerbsarbeit finden. Diese Errungenschaft ist ein Fundament unserer Gesellschaft. Die Journalistin Teresa Bücker verweist in ihrem Buch Alle Zeit zurecht darauf, dass auch Demokratie arbeitsfreie Zeit braucht. Nun steht der Achtstundentag auf dem Spiel. Aber Feierabend darf nicht wieder Luxus für wenige werden wie vor 1918.

Sowohl die Richtlinie als auch das Arbeitszeitgesetz haben ein wesentliches Ziel, nämlich die Gesundheit und das Leben arbeitender Menschen zu schützen. Es geht um Verfassungswerte, die ganz vorne in unserem Grundgesetz stehen. Unsere Körper und Seelen haben Grundbedürfnisse und die Verfassung verpflichtet den Staat, Arbeitgeber in Schranken zu weisen, die diese Grenzen missachten. Das haben der Europäische Gerichtshof und auch das Bundesarbeitsgericht zuletzt in wegweisenden Urteilen zur Arbeitszeiterfassung betont. Auch hier riefen Konservative und die Arbeitgeberlobby: »Alles nicht mehr zeitgemäß! Bürokratie!« Dabei ist das Arbeitszeitgesetz schon jetzt maximal flexibel, es ermöglicht bereits Zehn- oder sogar Zwölf-Stunden-Tage. Dafür gelten allerdings bisher zum Schutz der arbeitenden Menschen strenge Bedingungen. Das ist keine Bürokratie, sondern schützt effektiv vor Krankheiten und Unfällen. Denn überlange Arbeit hat verheerende gesundheitliche Folgen. Auch der exponentielle Anstieg des Unfallrisikos nach acht Stunden Arbeit ist belegt.

Es wird schon viel gearbeitet

In Deutschland wird bereits jetzt so viel gearbeitet wie nie: Die tatsächliche durchschnittliche Arbeitszeit bei Vollzeit lag 2021 bei 43 Stunden, 12 Prozent der abhängig Beschäftigten arbeiten laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin sogar 48 Stunden und mehr. Das Arbeitszeitvolumen lag 2023 auf einem Rekordniveau und mit 54,7 Milliarden Arbeitsstunden auf dem höchsten Wert seit 1991. Im Jahr 2023 wurden 556,2 Millionen bezahlte und 727,8 Millionen unbezahlte Überstunden geleistet. Gerne wird in der Debatte auf die im europäischen Vergleich niedrige durchschnittliche Arbeitszeit verwiesen. Diese geht jedoch auf die sehr hohe Quote an Teilzeitbeschäftigten zurück.

Teilzeit ist – wie Sorgearbeit – extrem ungleich verteilt: Jede zweite Frau, aber nur 12 Prozent der Männer arbeiten in Teilzeit. Und es gibt Arbeit, die gerne vergessen wird: Frauen leisten im Schnitt 25 Stunden unbezahlte Arbeitszeit wöchentlich, Männer nur 17 Stunden. Wenn Erwerbsarbeit weiter ausgedehnt, und Arbeitstage länger und noch weniger planbar werden, wird sich diese Schere weiter öffnen, denn lange Arbeitstage funktionieren nur mit Sorgearbeit im Rücken. Frauen fehlen dann ökonomische Unabhängigkeit, Rente und Aufstiegschancen.

Dass die Abschaffung einer täglichen Grenze der Arbeitszeit nun laut Koalitionsvertrag »auch und gerade im Sinne der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf« sein soll, ist eine Farce. Das greift aber ein Framing auf, an dem Arbeitgeber seit vielen Jahren arbeiten: Erwerbsarbeit und Sorgearbeit sollen angeblich daran scheitern, dass keine 13-Stunden-Tage möglich sind – statt an fehlenden Kita-Plätzen und Ganztagsbetreuung oder an Arbeitgebern, die Teilzeitbeschäftigte diskriminieren. Menschen sind zu Recht wütend über die fehlende Vereinbarkeit. Doch die tägliche Höchstarbeitszeit ist nicht ihr Problem. Im Gegenteil: Wenn es normal wird, dass rund um die Uhr gearbeitet wird, wenn immer um 21 Uhr noch jemand im Büro sitzt, um 22 Uhr Mails schreibt und die nächsten Meetings trotzdem um 8 Uhr am nächsten Morgen beginnen, wird der Druck noch größer, Schichtarbeit wird noch ungesünder. Es wird noch schwerer werden, sich abzugrenzen und ohne Ablenkung oder schlechtes Gewissen bei seiner Familie zu sein, ausreichend und erholsam zu schlafen, in Ruhe zu essen und schlicht für sich zu sorgen. Genau das macht aber nachweislich ebenso krank wie harte körperliche Arbeit. Wöchentliche Höchstgrenzen setzen all das unter Druck, was sich nicht auf das Wochenende verschieben lässt, sondern eine tägliche Grenze der Erwerbsarbeit braucht: Kindern essen machen, Opa versorgen, den schmerzenden Rücken entlasten, selbst genug schlafen. 

Die Autorin Jenny Odell beschreibt in ihrem Buch Nichts tun, wie Digitalisierung dazu führt, dass jede Minute des Tages monetarisierbar und die Abgrenzung von Erwerbsarbeit damit zur Daueraufgabe wird. Dabei verlieren wir unsere Kreativität und langfristige Leistungsfähigkeit. Es ist deshalb gerade der im Koalitionsvertrag angesprochene Wandel der Arbeitswelt, der Schutz vor Entgrenzung durch das Arbeitszeitgesetz weiter höchst aktuell macht. 

Das gefährliche Versprechen von »Flexibilität«

Die Aussage im Koalitionsvertrag, dass sich »Beschäftigte und Unternehmen [...] mehr Flexibilität« wünschen, ist sicher richtig. Die Flexibilisierungsinteressen widersprechen sich jedoch oft. Auf Seiten der Beschäftigten sind damit nicht unendlich lange Arbeitstage gemeint. Dies würde allein den Interessen von Arbeitgebern dienen. Nach Maßnahmen, die Beschäftigten echte Flexibilität in ihrem eigenen Interesse ermöglichen würden, sucht man im Koalitionsvertrag aber leider mit der Lupe. Hierzu würden zum Beispiel ein Rückkehrrecht für Teilzeitbeschäftigte auf Vollzeit zählen, eine Brückenteilzeit – also die Möglichkeit, nur vorübergehend in Teilzeit zu arbeiten – die Familienstartzeit oder ein Recht auf mobile Arbeit. Und auch der Beschäftigungssicherheit, die sich viele wünschen, würden längere Arbeitszeiten entgegenstehen. Denn längere Arbeitstage bedeuten mehr Arbeit mit weniger Personal. 

Dass die Standards im Arbeitsschutz und die Ruhezeiten erhalten bleiben sollen, ist ein wichtiger Verhandlungserfolg der SPD. Vor allem Arbeitgeberverbände wollen diese Grenzen fallen sehen. Dass laut Koalitionsvertrag niemand »gegen seinen Willen zu höherer Arbeitszeit gezwungen werden« soll, ist eine verstörende Formulierung, weil das einerseits selbstverständlich sein sollte – es offenbar aber nicht ist – und andererseits den Druck verkennt, der Entgrenzung faktisch auf Menschen ausübt. Auch die sogenannte »interessierte Selbstgefährdung« im Arbeitskontext ist sehr gut erforscht: Sie steigt explizit bei flexiblen Arbeitsformen

Die gute Nachricht ist: Zur konkreten Ausgestaltung des Vorhabens wird es laut Koalitionsvertrag einen Sozialpartnerdialog geben. Und der DGB und die Mitgliedsgewerkschaften haben bereits sehr deutlich gemacht: Für Rückschritte bei den großen Errungenschaften des Arbeitsschutzes stehen wir nicht zur Verfügung! Gerade ein modernes Leben ist gut, wenn Erwerbsarbeit tägliche Grenzen behält.

Johanna Wenckebach

Johanna Wenckebach ist Professorin für Arbeitsrecht an der University of Labour in Frankfurt am Main. Sie ist als Justiziarin bei der IG Metall tätig.

#3 – Wir kümmern uns

Neoliberale schaffen einen Staat, der die Menschen allein lässt.
Doch es braucht gemeinsame Fürsorge.

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