Mit strategischem Weitblick, staatlicher Lenkung und enormem Investitionswillen hat China seit 1979 eines der beeindruckendsten Kapitel der Wirtschaftsgeschichte geschrieben – und die globale Wirtschaftsordnung nachhaltig verändert. Chinas industrielle Dominanz ist inzwischen unübersehbar: Es hat erfolgreich den technologischen Sprung vom einfachen verarbeitenden Gewerbe zur Hightech-Industrie vollzogen und produziert inzwischen mehr als alle Industrienationen zusammen. Besonders ausgeprägt ist diese Dominanz im Bereich klimafreundlicher Technologien wie Solarzellen, Windräder und batterieelektrische Fahrzeuge – dem Geschäft der Zukunft. Inzwischen denkt die EU-Kommission offen über einen Technologietransfer chinesischer Hersteller als Voraussetzung für Produktionsstätten in der EU nach. How the tables have turned!
Die bisher größte Datengrundlage
Dennoch herrschen hierzulande einige Missverständnisse über die Quellen des chinesischen Erfolgs. Weder beruht die Industriepolitik ausschließlich auf Subventionen, noch wird sie nur von oben nach unten autoritär durchgesetzt. Diese Zusammenhänge beleuchtet eine bemerkenswerte neue Studie von Hanming Fang, Ming Li und Guangli Lu für das US-amerikanische National Bureau of Economic Research (NBER). Sie analysieren mit künstlicher Intelligenz mehrere Millionen Regierungsdokumente im Zeitraum 2000 bis 2022, die von der nationalen bis auf die kommunale Ebene formuliert worden sind. Dieser enorme Textkorpus wird mit feinkörnigen Firmendaten ergänzt, um die Auswirkungen der Politik zu messen. Mit diesem Datensatz, ihrer breiten Fragestellung und den Möglichkeiten aktueller large language models (LLMs) überwinden die Forscherinnen und Forscher die Einschränkungen früherer Studien, die sich entweder auf einzelne Initiativen wie »Made in China 2025« konzentrierten oder Regierungsdokumente nach einzelnen Stichwörtern durchsuchten. Damit konnten sie auf eine bisher einmalige Weise die Zusammenhänge zwischen den großen Richtlinien und der kleinteiligen lokalen Ausdifferenzierung chinesischer Industriepolitik über einen großen Zeitraum analysieren.
Den Forschenden geht es um eine grundsätzliche Bestandsaufnahme der Industriepolitik auf dieser umfassenden Datengrundlage. Von insgesamt knapp 3 Millionen offiziellen Dokumenten klassifizieren sie 770.000 – oder 25 Prozent – als industriepolitische Maßnahmen. Von diesen wurden 13 Prozent von der Zentralregierung erlassen, knapp 45 Prozent von den Regionen und 42 Prozent von der städtischen oder kommunalen Ebene. Die Maßnahmen haben drei übergeordnete Ziele: die Förderung von Schlüsselindustrien, Innovationen und sozialer Wohlfahrt. 17 Prozent bezogen sich auf den landwirtschaftlichen Sektor, 29 Prozent auf das verarbeitende Gewerbe und 49 Prozent auf Dienstleistungen, insbesondere die produktionsnahen. Über die Zeit hat der Umfang industriepolitischer Maßnahmen zugenommen, wobei ein steigender Anteil einen unterstützenden Tonfall aufweist. Subventionen sind zwar mit 41 Prozent das wichtigste Instrument, das in den Maßnahmen auftaucht, aber das bedeutet auch, dass über die Hälfte der Maßnahmen andere Instrumente beinhaltet. Dazu gehören mit 35 Prozent Marktregulierungen und die Lockerung von Eintrittsbarrieren, die Förderung von Forschung und Entwicklung mit 24 Prozent oder arbeitsmarktpolitische Regelungen mit 22 Prozent. Bereits diese Befunde verdeutlichen eine bisher nicht ausreichend gewürdigte räumliche und instrumentelle Diversität der chinesischen Industriepolitik.
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