Das Versprechen der alten Bundesrepublik vom »Wohlstand für alle« ist gebrochen. Die Ehe zwischen Kapitalismus und Demokratie befindet sich in der Scheidung, Abstiegsängste und Wohlstandsverluste prägen zunehmend den Alltag. Arbeitenden Menschen ist es kaum noch möglich, sich Aufstieg und Vermögen zu erarbeiten. Die Kosten des alltäglichen Lebens steigen seit Jahren, bezahlbarer Wohnraum wird zum Luxus – und die Reallöhne sind niedriger als 2019. Von all dem profitieren die Rechten.
Große Errungenschaften der Arbeiterbewegung wie der Achtstundentag stehen unter der neuen Bundesregierung wieder auf dem Spiel. Eine Wochenarbeitszeit soll flexiblere Arbeitszeiten ermöglichen, würde in der Realität aber den Druck auf die Einzelnen erhöhen und die Arbeit noch mehr entgrenzen, vor allem auch für Menschen, die Sorgearbeit leisten.
Doch so düster die Lage ist, sie bietet auch die Chance, eine neue Bewegung der Arbeitenden zu formieren. Progressive Politik sollte aus der Geschichte der Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts lernen und an ihre kämpferische Tradition anknüpfen. Nur eine branchenübergreifende Bewegung wäre in der Lage, durch eine schlagkräftige Organisierung politischen Druck auszuüben und konkrete Verbesserungen für die Mehrheit zu erreichen, ähnlich wie im 19. und im 20. Jahrhundert. Das mag für viele nach Wunschdenken klingen, doch ein Revival der Arbeiterbewegung ist heute alternativlos.
Die lange Tradition der Arbeitskämpfe
Im Mai 1886 detonierte eine Dynamitbombe in einer Polizeistation in Chicago, nachdem hunderttausende amerikanische Arbeiterinnen und Arbeiter über Tage für den Achtstundentag streikten. Nach dem Anschlag schoss die Polizei wahllos in die Menge, die Pflastersteine des Platzes glänzten dunkelrot. Vier Jahre später – 1890 – rief die Sozialistische Internationale den 1. Mai zum Kampftag der Arbeiterbewegung aus und veranstaltete die ersten Maidemonstrationen. Sie nahm damit Bezug auf das Blutbad am Chicagoer Haymarket Square und den Kampf um den Achtstundentag in den USA.
Der heutige Erste Mai hat seinen Ursprung nicht in einer religiösen oder kulturellen Tradition, wie die meisten Feiertage, sondern entspringt direkt dem zentralen politisch-wirtschaftlichen Interessenkonflikt des modernen Kapitalismus. Dem Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, also jenen, die Betriebe und Vermögen besitzen, und jenen, die nur durch Lohnarbeit ihr Leben bestreiten können. Eigentümerinnen und Eigentümer müssen unter dem Zwang der Konkurrenz Profite erwirtschaften. Sie haben so strukturell ein Interesse an der Verlängerung des Arbeitstages, der Konflikt um den Achtstundentag ist so alt wie der Kapitalismus selbst.
Kämpfe um bessere Arbeitsbedingungen begannen mit Blutbädern, führten über die branchenübergreifende und internationale Organisierung der Arbeitenden zu unzähligen Streiks und endeten nach Jahrzehnten mit lauter politischen und rechtlichen Errungenschaften. In Deutschland führte Bismarck durch den Druck der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung die Sozialgesetzgebung ein. Im November 1918 wurde der Achtstundentag in der Weimarer Republik auch in Deutschland gesetzlich festgelegt. Und 1952 gelang eine radikale Reform, die den Arbeitenden hierzulande viel Macht verlieh: Durch das Betriebsverfassungsgesetz erhielten sie direkte Einflussmöglichkeiten in den Aufsichtsräten großer Unternehmen.
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