Aufstehen, Anziehen, vielleicht noch schnell Frühstücken, ab in die Bahn, Arbeiten. Arbeiten, Arbeiten, Arbeiten, Kaffee, Kaffee, Kaffee, dann schnell heim. Essen, duschen, je nach Erschöpfungs-Level zum Sport oder auf die Couch – und dann, ein paar Stunden später, endlich wieder: Schlafen. Aber nur acht Stunden! Am Wochenende dürfen es auch mal neun sein, der Schlafmangel, hat man mal wieder Überstunden geleistet, muss ja nachgeholt werden. Aber zehn, das wäre exzessiv, Zeitverschwendung.
Wir schlafen zu viel, wir schlafen zu wenig, zu schlecht, zu unruhig. Der Schlaf – dieses banalste und fürs (Über-)Leben eines der zentralsten Bedürfnisse des Menschen – ist zu Recht ein wiederkehrendes Thema im alltäglichen Smalltalk. Wer wenig schläft, gilt als fleißig; das frühe Aufstehen als Tugend. Führungskräfte brüsten sich damit, dass sie morgens schon um 5 Uhr im Büro sind und bis in die Nacht dort bleiben. Wie wir schlafen, ist aber nicht einfach biologisch vorherbestimmt. Natürlich auch – wer kennt nicht die Schlaftypen der nachtaktiven »Eulen« und der frühaufstehenden »Lerchen« –, aber eben nicht nur. Der Schlaf ist wie fast alles im menschlichen Leben sozial determiniert, ökonomisch verwertet und politisch beherrscht.
Die Entstehung des neoliberalen Schlaf-Korsetts
»Dass die Zeit, in der wir schlafen, von sozialen Faktoren abhängt und damit Gegenstand der Disziplinierung werden kann, dürfte verhinderten Langschläfern unmittelbar einleuchten«, schreibt Birgit Emich. Sie hat in Zwischen Disziplinierung und Distinktion: Der Schlaf in der frühen Neuzeit untersucht, wie die sozioökonomische Ordnung das Schlafregime beeinflusst. Aus historischen Schriften in Europa erfährt sie, dass die Menschen bereits im 16. Jahrhundert Abstand genommen haben von dem jahrhundertelang üblichen Schlafrhythmus, der sich am Tageslicht orientiert hatte. Handwerkerinnen und Bauern arbeiteten nun im Winter schon vor Sonnenaufgang und gingen im Sommer noch vor dem Sonnenuntergang schlafen.
Darauf, dass es zu diesem Zeitpunkt noch keine einheitliche Ordnung gegeben hatte, deutet eine Studie von Roger Ekirch hin (Sleep we have lost, 2001). Historische Dokumente zeigen seiner Recherche zufolge, dass es auch ein zweigeteiltes Schlafmuster gegeben hat: Man ging früh schlafen, wachte nachts für ein paar Stunden auf – um Freunde zu treffen, zu Beten, zu Essen oder Sex zu haben – und schlief dann einfach weiter. Ekirch zufolge war diese Praxis global weitverbreitet, nicht nur in Frankreich und England, sondern auch in Afrika, Südostasien, Südamerika und im Mittleren Osten habe es Aufzeichnungen eines solchen biphasischen Schlafrhythmus gegeben. Bis in die Antike verfolgte er Quellen für dieses Muster zurück und nicht zuletzt schreiben auch schon Tolstoi und sogar Homer von einem »ersten« und »zweiten Schlaf«.
Im Mittelalter, so belegen es Birgit Emich zufolge Gesetzesordnungen, sind Schlafenszeiten immer strenger reglementiert worden. Wer zu später Stunde noch außerhalb des eigenen Hauses gesichtet wurde, ist vielerorts an den Pranger gestellt worden – auch aufgrund der frauenfeindlichen Sexualmoral, denn in der Nacht vermutete man die Unzucht. Im Laufe der Zeit setzten sich in Nordeuropa methodistische Vorstellungen durch, die, wie Max Weber in der Protestantischen Ethik geschrieben hat, später dem Kapitalismus die Grundlage bereiten sollten. Es galt, möglichst fleißig zu sein; das Frühaufstehen war ein Zeichen dieses Fleißes und der Ehrfürchtigkeit vor Gott. Emich verortet den Höhepunkt dieser »voll und ganz religiös motiviert[en]« Debatte im Jahr 1786, als John Wesley eine Predigt mit dem Titel »Pflicht und Vorteile des Frühaufstehens« publizierte. Aus dieser Zeit stammt demnach auch das geflügelte Wort »Morgenstund hat Gold im Mund«.
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