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Das Wirtschaftsmagazin

Otto Neurath: Die Wirtschaft soll dem Glück dienen

Otto Neuraths Theorie des Glücks zeigt, dass Demokratien selbst entscheiden sollten, für welches Ziel sie wirtschaften.

7 Minuten Lesedauer
Otto Neurath vor der Wiener Votivkirche um 1900. Illustration: Surplus/IMAGO/viennaslide/Heinrich Hoffman (1919)

In einem Vortrag vor Chemnitzer Arbeiterinnen und Arbeitern der Chemnitzer Fabriksdelegation brachte Otto Neurath seine Grundüberzeugung im Jahr 1919 auf den Punkt. Die Aufgabe der Wirtschaft sei, »das Glück des Volkes zu fördern.« Er plädierte für die Vollsozialisierung der Wirtschaft und nahm an, dass die Zeit reif für eine geldlose Naturalwirtschaft sei. Die Aufgabe von Gesellschaftstechnikern sei es, verschiedene Gesamtpläne für die Wirtschaft zu erarbeiten, mit dem Ziel, das gesellschaftliche Glück zu erhöhen. Doch gerade diese auf den ersten Blick etwas merkwürdig anmutenden Ideen haben noch heute enorme Relevanz. 

Auch wenn eine geldlose Naturalwirtschaft uns heute fremd erscheint, leben die grundsätzlichen Einsichten von Neuraths Glücksforschung in verschiedenem Ausmaß weiter. Die Kritik an einfachen Wohlstandsindikatoren, wie dem Bruttoinlandsprodukt, und die Idee einer vielschichtigen Wohlstandsanalyse findet sich beispielsweise bei dem Entwicklungsökonomen und Philosophen Amartya Sen. Neuraths Frage nach der Entscheidungsfindung anhand unterschiedlicher Kriterien wird in der ökologischen Ökonomik weiterverfolgt.

Ein Pionier und Aufklärer

Der 1882 in Wien geborene Otto Neurath war vieles: Historiker, Soziologe, Ökonom, Bildstatistiker, Museumsdirektor, Pädagoge, Wissenschaftsphilosoph und Sozialisierungstheoretiker. Auf vielen dieser Gebiete hat er Pionierarbeit geleistet. Um die Jahrhundertwende war Neurath einer der führenden Vertreter der Kriegswirtschaftslehre, einer Disziplin, die sich mit den Funktionsweisen einer Ökonomie im Kriegszustand auseinandersetzt.

Er war auch Gründungsmitglied des sogenannten Wiener Kreises. Diese Gruppe von Wissenschaftsphilosophen trat, geprägt von der wissenschaftlichen Revolution Anfang des 20. Jahrhunderts, ausgelöst durch Albert Einsteins Relativitätstheorie und die Quantenmechanik, für eine »wissenschaftliche Weltauffassung« ein. Neurath entwickelte außerdem die Wiener Methode der Bildstatistik. Diese Bildsprache, die heutzutage als Isotype bekannt ist, leitete er von ägyptischen Hieroglyphen ab. Anhand von Symbolen und Piktogrammen sollten komplexe Zusammenhänge der Natur- und Sozialwissenschaften einfach vermittelt werden und der Bevölkerung die Mitsprache an politischen und ökonomischen Entscheidungen ermöglichen.

Trotz dieser vielfältigen Wirkungsbereiche durchzog Neuraths Leben ein klares Anliegen. Er war Aufklärer. Doch Neurath betrieb die Aufklärung nicht um ihrer selbst willen. Neurath verband mit ihr den praktischen Anspruch, Menschen zu befähigen, ihre Lebenslage zu verbessern. Er war an der Vergrößerung individuellen und gesellschaftlichen Glücks interessiert. 

Von tragischen Schicksalsschlägen geprägt

Es ist ironisch, dass sich ausgerechnet Neurath mit der Frage des Glücks so intensiv beschäftigt hat, war sein Leben doch immer wieder von tragischen Rückschlägen gekennzeichnet. Kurz bevor er sein Studium zuerst in Naturwissenschaft und Mathematik in Wien und kurz darauf in Ökonomie und Geschichte in Berlin antrat, starb sein Vater Wilhelm. Wilhelm Neurath, selbst ein bekannter Nationalökonom, war zwar kein wohlhabender Mann, doch hätte seinen Sohn finanziell unterstützen können. Durch den Tod des Vaters entfiel diese Stütze jedoch und Otto Neurath musste sein Studium fortan alleine finanzieren - mit teils dramatischen Konsequenzen. Immer wieder litt er unter Hunger und baute körperlich ab.

Zurück in Wien ging es ihm materiell zwar etwas besser. Doch seine erste Ehefrau Anna Schapire starb 1911 bei der Geburt ihres ersten Sohnes Paul. In den 1930er Jahren musste Neurath im Zuge der Februarkämpfe in Österreich nach Den Haag fliehen. Dort starb auch seine zweite Frau Olga Hahn an einer Lungenentzündung. Wenig später floh Neurath vor den Angriffen der deutschen Luftwaffe. Dieses Mal setze er in einem Boot nach England über, wo er dann kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges viel zu früh sterben sollte.

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Lukas Müller-Wünsch

Lukas Müller-Wünsch promoviert in Politikwissenschaft an der University of Chicago. Er ist außerdem Teil des Forschungsprojekts »Economic Planning and Democratic Politics« des Neubauer Collegiums.

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