Börsengeschäfte werden heute in Millisekunden abgewickelt. Während sich Makler auf den altehrwürdigen Parketten im 19. und 20. Jahrhundert noch Angebote zuriefen, übernehmen heute oft Algorithmen den Kauf und Verkauf von Wertpapieren – in für Menschen nicht mehr wahrnehmbarer Geschwindigkeit. Etwa zwei Drittel des Handelsvolumens auf dem US-Aktienmarkt, den europäischen Finanzmärkten und den wichtigsten asiatischen Kapitalmärkten werden durch algorithmischen Handel erbracht. Dieser Hochfrequenzhandel ist Ausdruck eines beschleunigten Hyperkapitalismus, der buchstäblich seine eigene Zeitrechnung hervorbringt.
Doch diese Entwicklung ist keine »Perversion« des kapitalistischen Systems, sondern von Anfang an in seiner Logik und historischen Genese angelegt. Der Kapitalismus hat den Ablauf der Zeit selbst zum produktiven Faktor werden lassen. Dieser Prozess hatte nicht nur Auswirkungen auf die Ökonomie selbst, sondern auf unser gesamtes Weltverhältnis und die Art und Weise, wie wir uns die Zukunft vorstellen und unser Leben führen.

Die Rhythmen der Natur und der Aufstieg des Handelskapitals
Um zu verstehen, wie tiefgreifend der moderne Kapitalismus unsere Zeitvorstellungen revolutioniert hat, muss man weit in die Geschichte zurückblicken: Sogenannte vormoderne Gesellschaften waren (und sind) von den Rhythmen und der Zeit geprägt, die die Natur vorgibt – also den Jahreszeiten, Sonnenauf- und Untergang und dem Wetter. Hinzu kommen religiöse und mythische Erzählungen, die Zeitvorstellungen prägen. Dem Mittelalterforscher Jacques Le Goff zufolge kannte der mittelalterliche Mensch zwei existenzielle Ängste: die Angst, aufgrund der Launen der Natur zu verhungern, und jene, am Tag des Jüngsten Gerichts nicht erlöst zu werden. Eine Geschichte im modernen Sinn existierte nicht, »sozialer Wandel vollzog sich oft derart langsam, dass er in seiner Neuartigkeit kaum erfasst wurde«, schreibt die Soziologin Alexandra Schauer in ihrer Studie Mensch ohne Welt.
In der Sprachforschung wurde entdeckt, dass vormoderne Gesellschaften oft noch keine abstrakten Zeitkategorien kennen. Die Sprache enthält dann, wie Schauer zusammenfasst, beispielsweise Begriffe für das Schlafen, aber nicht die Nacht; den Mond, aber nicht den Monat; die Ernte, aber nicht das Jahr. All das beginnt sich mit der Etablierung von Märkten, Geldwirtschaft und dem aufkommenden Handelskapitalismus grundsätzlich zu ändern. Nicht ohne Grund konnte man die ersten öffentlichen Uhren um das Jahr 1300 in Oberitalien erblicken. Die Stadtstaaten Genua und Venedig kontrollierten den Handel im Mittelmeer und erschlossen Routen in den Nahen Osten und nach Asien. Dafür war eine präzise getaktete Logistik notwendig, die Uhren regelten den Handel und waren Symbol für die Macht der Stadtstaaten.
In den nächsten Jahrhunderten erstreckte sich der Seehandel über immer größere geografische Räume. Die erste Weltumsegelung durch Magellan in den Jahren von 1519 bis 1522 wurde bekanntlich mit dem Ziel begonnen, eine Westroute zu den »Gewürzinseln«, der indonesischen Inselgruppe der Molukken zu finden. Es ging darum, die teure und gefährliche Route um Afrika zu vermeiden, die auch von politischen Konflikten gefährdet war. Ziel war es – ökonomisch gesprochen –, die Umschlagzeit für den lukrativen Gewürzhandel zu verkürzen.
Und wer Handel treibt, muss mit der Zukunft rechnen. Fristen laufen ab, Termine treffen ein, Zahlungen werden fällig. Gleichzeitig etablierte sich die doppelte Buchhaltung, die komplexere Finanzbeziehungen ermöglichte. Der frühe Handelskapitalismus wurde durch ein neues Bankensystem ermöglicht, das den Regierungen Kredite gewährleistete, die Schiffsexpeditionen ermöglichte. Kredit und Zins sind ihrem Wesen nach Wetten auf eine verwertete Zukunft und bringen ein eigenes Zeitregime hervor. Die Zeit wird durch den Kredit buchstäblich ein produktiver Faktor der Ökonomie. Dabei erfordert der Kredit allerdings auf der anderen Seite, beim Kreditnehmer, eine gewinnversprechende ökonomische Operation in der Zukunft – im Handelskapitalismus war das oft die Ausbeutung kolonialer Einflussgebiete.
Die Ausbreitung der frühkapitalistischen Geldwirtschaft, der Handel und die Etablierung der Manufakturen haben zur Weitsicht und zu einem buchstäblichen »Gefühl« für die Zukunft – und darüber hinaus überhaupt zu einem modernen Geschichtsverständnis beigetragen. »An die Stelle der christlichen Prophetie« trat nach Schauer »die kalkulierte Prognose«, was auch immer größere Auswirkungen auf den Alltag der Menschen hatte – besonders in den Städten. Oder wie John Maynard Keynes schreibt: »Die Bedeutung des Geldes ergibt sich im Wesentlichen daraus, dass es eine Verbindung zwischen der Gegenwart und der Zukunft darstellt.« Die Uhrzeit und das Geld übernahmen die Taktung des gesellschaftlichen Lebens.