Vor einem Vierteljahrhundert begründete die rot-grüne Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder die Tradition der regierungsoffiziellen Armuts- und Reichtumsberichterstattung. Da die Ampelkoalition in den knapp drei Jahren ihres Bestehens keinen Entwurfstext zustande gebracht hat, konnte die neue Arbeits- und Sozialministerin Bärbel Bas den Siebten Armuts- und Reichtumsbericht aufgrund entsprechender Vorarbeiten zügig präsentieren. Das war seit 2001 noch keiner Bundesregierung gelungen.
Armut und soziale Ungleichheit in einem reichen Land
Doch anscheinend hat sich die Öffentlichkeit an die sich verschärfende Ungleichheit gewöhnt. Gab es früher schon im Vorfeld der Verabschiedung eines Armuts- und Reichtumsberichts heftige Kontroversen zwischen den Regierungsparteien, Parlamentsfraktionen und Verbänden, wird der Hinweis auf die soziale Polarisierung heute öfter mit einem Achselzucken quittiert. Dabei bildet die soziale Ungleichheit das Kardinalproblem unseres Landes, weil sie zu ökonomischen Krisen, ökologischen Katastrophen und Verteilungskonflikten führt, aber auch Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und eine Gefahr für die Demokratie ist. Aufgrund der sich häufenden und einander überlappenden Krisen, der Covid-19-Pandemie, der Energiepreisexplosion im Gefolge des Ukrainekrieges und der Inflation, die als Katalysatoren der sozialen Polarisierung wirkten, hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich in den vergangenen Jahren weiter vertieft.
Obwohl die Reichen in Deutschland zuletzt reicher und die Armen zahlreicher geworden sind, verharmlost der Siebte Armuts- und Reichtumsbericht die soziale Ungleichheit. Wenn sich das Auseinanderdriften der Gesellschaft partout nicht mehr leugnen lässt, beschwichtigt und beruhigt er aber seine Leserinnen und Leser zu Unrecht. So hält der Regierungsbericht eine »natürliche« Erklärung für die eklatante Verteilungsschieflage des Vermögens bereit, wenn er auf die Banalität hinweist, »dass Ungleichheit schon dadurch entsteht, dass Vermögensbildung ein langfristiger Prozess im Lebensverlauf ist. Dadurch steigt das Vermögen mit zunehmendem Alter an, da es über einen längeren Zeitraum angespart werden kann und im Lebensverlauf steigende Einkommen auch mehr Möglichkeiten zum Sparen eröffnen. Zinseszinseffekte, Wertsteigerungen und die höhere Wahrscheinlichkeit zu erben sorgen für einen weiteren altersbezogenen Vorteil.«
Auf der Grundlage einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) wird eine Ungleichverteilung von Erbschaften und Schenkungen konstatiert, zu der es wegen steuerrechtlicher Vorteile übrigens oft schon im Kindesalter der Begünstigten kommt: »Die Verteilung intergenerationaler Transfers weist klare Unterschiede auf: Die obersten zehn Prozent der Begünstigten erhielten fast die Hälfte aller insgesamt übertragenen Erbschaften und Schenkungen, während die unteren fünfzig Prozent nur rund sieben Prozent erhielten. Erbschaften und Schenkungen erhöhen somit die absolute Vermögensungleichheit. Die Bedeutung von kleineren Transfers ist aber am unteren Ende der Vermögensverteilung vergleichsweise groß, was insgesamt die relative Ungleichheit, wie sie der Gini-Koeffizient widerspiegelt, sinken lässt.« Damit relativiert man den obigen Befund sofort wieder.
Unterschieden werden acht Soziallagen, die von »Armut« und »Prekarität« am unteren Ende über »Armut – Mitte«, »Untere Mitte«, »Mitte«, »Wohlhabenheit – Mitte« bis zu »Wohlstand« und »Wohlhabenheit« an der Spitze reichen. Das wirkt nicht bloß gekünstelt und sprachlich unbefriedigend, sondern lässt auch den Reichtum als Schlüsselkategorie der Verteilungsanalyse ganz verschwinden. Wenn dann noch Arme als »Niedrigeinkommensbezieher« tituliert werden, hat man den Arm-reich-Gegensatz semantisch entsorgt.
Statt des Niedriglohnsektors als Haupteinfallstor der Armut geraten eher die Auslöser individueller Notlagen wie Arbeitslosigkeit, (Früh-)Invalidität, Trennung bzw. Scheidung und frühzeitiger Tod des Lebenspartners ins Blickfeld. Hingegen bleiben die gesellschaftlichen Determinanten sozialer Auf- und Abstiege weitgehend im Dunkeln.
Was die Ungleichheit beziehungsweise ihr Wachstum mit den bestehenden Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsverhältnissen und Regierungsentscheidungen zu tun hat, erfährt man nicht. Ausführlich wird beispielsweise die »Entlastung einkommensschwächerer Haushalte« durch das Wohngeld und seine Erhöhung dargestellt, jedoch nicht problematisiert, dass dieser Transfer letztlich den Vermietern zugutekommt, wodurch die Mietpreise tendenziell steigen und sich die soziale Ungleichheit verschärft.
Hinsichtlich der starken Vermögenskonzentration in Deutschland, die sich nur geringfügig von jener der USA unterscheidet, erkennt die Bundesregierung denn auch keinen akuten Handlungsbedarf. Vielmehr werden die Leserinnen und Leser beruhigt und beschwichtigt: »Der Anteil des Nettovermögens, das die vermögendsten zehn Prozent der Verteilung besitzen, veränderte sich in den vergangenen Jahren nur leicht. Nach wie vor besitzen die zehn Prozent der vermögendsten Haushalte 54 Prozent des gesamten Nettovermögens. 2010/11 waren es noch 59 Prozent.«
Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung
Geradezu naiv erscheint der Bericht, wenn er behauptet: »Das in Deutschland progressiv ausgestaltete Steuersystem trägt (…) zur Umverteilung bei, sodass im Saldo Haushalte in den unteren Einkommensdezilen durch die Entlastungsmaßnahmen deutlich stärker profitieren.« Längst sollte sich bis zur Bundesregierung herumgesprochen haben, dass besonders Hochvermögende, die man besser Hyper- als »Superreiche« nennen sollte, oft sogar einen geringeren Steuersatz entrichten als weniger Gutbetuchte. Niemand ist durch die Steuergesetzgebung der vergangenen Jahrzehnte stärker entlastet und dreister begünstigt worden als Reiche und Hyperreiche, die sehr viel mehr zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen könnten.
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