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»Die Deutschland AG garantierte Stabilität, erzeugte aber auch strukturelle Enge«

Konstantin Richter spricht im Interview über sein neues Buch zur Deutschland AG: über Kontinuitäten, Brüche und das Verhältnis von Wirtschaft und Rechten.

5 Minuten Lesedauer

Konstantin Richter spricht über sein neues Buch »Dreihundert Männer«. Credit: IMAGO/Thomas Lebie

Über Jahrzehnte prägte ein enges Netzwerk aus Großunternehmen, Banken und Aufsichtsräten die westdeutsche Wirtschaft: die sogenannte Deutschland AG. In seinem neuen Buch Dreihundert Männer rekonstruiert der Wirtschaftsjournalist und Historiker Konstantin Richter ihren Aufstieg, ihre Macht und ihren schrittweisen Zerfall seit den 1990er Jahren. Im Interview mit Surplus-Redakteur Patrick Kaczmarczyk spricht Richter darüber, warum dieses Modell lange Stabilität versprach, wie es Innovation bremste und was seine Geschichte über die heutigen Krisen verrät.

Patrick Kaczmarczyk: Herr Richter, in Ihrem Buch erzählen Sie vom Aufstieg und Niedergang der Deutschland AG. Warum war es Ihnen wichtig, genau diese Geschichte zu schreiben?

Richter: Weil man die Geschichte der Bundesrepublik ohne dieses Gefüge kaum versteht. Der Begriff wirkt heute antiquiert, fast museal, doch er beschreibt ein über Jahrzehnte stabiles Machtgewebe: ein eng vernetztes System aus Industrie, Banken und Aufsichtsräten. Einige Dutzend Männer übten einen enormen Einfluss aus, sie saßen in zahlreichen Gremien und bestimmten im Verbund den Kurs der deutschen Wirtschaft. Dieses System garantierte Stabilität, erzeugte aber auch strukturelle Enge. Es prägte die politische wie gesellschaftliche Entwicklung des Landes stärker, als uns heute bewusst ist. 

Konstantin Richter: Dreihundert Männer

Aufstieg und Fall der Deutschland AG. Oktober 2025, Suhrkamp.

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Wann hatten Sie das Gefühl, dass sich hinter dem Begriff der Deutschland AG die eigentliche Architektur der deutschen Wirtschaft verbarg?

Richter: Das wurde mir klar, als sich diese Struktur in den 1990er und frühen 2000er Jahren auflöste. Während meiner Zeit beim Wall Street Journal sah ich, wie sich die alten Verflechtungen lösten. Mich interessierte, wie eine relativ kleine Gruppe so lange so viel Macht bündeln konnte – und wie diese Kultur innerhalb weniger Jahre verschwand. 

Warum hat es mehr als 20 Jahre gedauert, bis das Buch fertig wurde?

Richter: Mir war es sehr wichtig, diese zutiefst deutsche Geschichte zu erzählen. Über sie erhält man ein tieferes Verständnis der wirtschaftlichen Entwicklungen vom Kaiserreich bis zur Globalisierung – aus der Perspektive jener rund dreihundert Männer und ihrer Unternehmen. Aber ich habe die Idee lange bloß mit mir rumgetragen, weil ich nicht wusste, ob ich so ein großes Buch überhaupt schreiben kann. 

Hilft uns die Geschichte der Deutschland AG, die aktuelle Krise besser zu verstehen?

Richter: Manche Muster der Trägheit reichen bis in die 1950er und 60er Jahre zurück. Das Wirtschaftswunder war ein Erfolg, beruhte aber auch auf einer Art Illusion: Man glaubte, das alte Vorkriegsmodell ließe sich einfach erneuern. Dieselben Männer, dieselben Strukturen, dieselbe Logik. Der Wiederaufbau war beeindruckend, aber zum Teil auch rückwärtsgewandt. Es fehlte der Mut, sich von Führungsfiguren und Geschäftsmodellen zu lösen, die oft noch aus der Zeit vor 1945 stammten. Das erklärt, warum es später auch so schwer war, in Zukunftstechnologien zu investieren. Die deutsche Computerindustrie zeigt das deutlich: Hervorragendes Ingenieurswissen war da, aber es fehlte an Risikobereitschaft und an Risikokapital.

Gleichzeitig beschreiben Sie, wie Unternehmen wie Daimler interne Warnungen ignorierten.

Richter: Ja. Dort dachte man bereits in den 70er Jahren darüber nach, in Wachstumsbranchen zu investieren und sich breiter aufzustellen, weil man nicht allein vom Autobau abhängig sein wollte. Doch man blieb beim Vertrauten. Als Edzard Reuter in den 80ern umsteuern wollte, setzte er auf die AEG – und verlor Milliarden. Eine missglückte Wette, die zeigt, wie schwer sich große Unternehmen mit Veränderung tun, solange die alte Ordnung noch trägt. 

Dennoch ging es den deutschen Konzernen in den letzten Jahrzehnten gut. War das nur ein Aufschub?

Richter: Ja, das kann man so sehen. Der Fall des Eisernen Vorhangs, die Öffnung Chinas, die Liberalisierung der Kapitalmärkte – all diese externen Ereignisse verlängerten das alte Modell. Das war keine Modernisierung, sondern eine geografische Ausdehnung. Man musste nicht innovieren, man musste nur exportieren. Die Gewinne flossen selten in Zukunftsfelder, sondern in Optimierungen des alten Geschäftsmodells oder in die kurzfristige Befriedigung von Aktionärsinteressen. Damit hatte man das Schlechteste aus beiden Welten: konservative Strukturen und kurzfristige Kapitalmarktorientierung. 

In der Krise heute profitieren vor allem rechtsextreme Parteien. Der Verband der »Familienunternehmer« hob zuletzt formal die Brandmauer zur AfD auf, ruderte dann zurück. Sehen Sie Parallelen zur Zwischenkriegszeit?

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Konstantin Richter

Konstantin Richter ist Autor und Journalist. Er hat regelmäßig für Medien wie The Wall Street Journal, The Guardian, The New York Times oder Die Zeit geschrieben. Darüber hinaus hat er mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt »Dreihundert Männer«.

Patrick Kaczmarczyk

Dr. Patrick Kaczmarczyk ist Ökonom an der Universität Mannheim und Redakteur bei Surplus. Zuletzt war er Leiter für volkswirtschaftliche Grundsatzfragen beim Wirtschaftsforum der SPD und UNO-Berater.

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