Europa braucht eine Industriepolitik für Dienstleistungen. Wir verbinden Industrie in der Regel mit Fertigung. Und Fertigung mag für Innovationen in Hochtechnologiebereichen oder für die nationale Sicherheit wichtig sein. Aber ihre Bedeutung für inklusive Gesellschaften und gute Arbeitsplätze, die die Grundlage für gesunde politische Systeme und nachhaltige Demokratien bilden, hat erheblich abgenommen – und wird dies auch weiter tun.
Heute sind in ganz Europa nur noch etwa 15 Prozent der Erwerbstätigen in der Fertigung beschäftigt – eine Zahl, die weiter sinkt. Angesichts der technologischen Entwicklungen und des globalen Wettbewerbs scheint es schwierig zu sein, diesen Rückgang umzukehren. Daher wird die Fertigung kein Sektor sein, in dem Arbeitsplätze geschaffen, sondern vielmehr abgebaut werden. Berücksichtigt man zudem den geringen Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft, bleibt nur noch der Dienstleistungssektor als Bereich, in dem Arbeitsplatzwachstum stattfinden können wird.
Natürlich wollen wir, dass es sich um gute Arbeitsplätze und Dienstleistungen handelt. Um gute Arbeitsplätze zu schaffen, denken viele oft direkt an Bildung, Qualifikationen und Ausbildung. Wir müssen jedoch anerkennen, dass mindestens die Hälfte der zukünftigen Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor kein hohes Bildungsniveau erfordern. Dabei handelt es sich um Arbeitsplätze im Groß- und Einzelhandel, im Verkauf und in der Verwaltung, im Gesundheits- und Sozialwesen, im Baugewerbe, im Transportwesen, in der Lagerhaltung und Logistik sowie im Gastgewerbe. Hier wird es nicht ausreichen, einfach nur in Bildung zu investieren. Wir müssen darüber hinausgehen.
Natürlich müssen eine Stärkung der Tarifverhandlungsmacht der Beschäftigten, bessere Arbeitsvorschriften, Mindestlöhne und branchenspezifische Tarifverträge dafür sorgen, dass die Beschäftigten in diesen Branchen eine solide Grundlage haben – und einen Weg in die Mittelschicht. Letztendlich basieren gute Arbeitsplätze jedoch auf Produktivität im weitesten Sinne des Wortes: eine Dienstleistung, die für die Kunden von Wert ist und einen wesentlichen Beitrag zur Qualität der Dienstleistung leistet. Und genau hier brauchen wir eine Industriepolitik: um Produktivitätsengpässe im Dienstleistungsbereich zu beseitigen.
Wir sollten uns auf den Einsatz neuer Technologien und neuer organisatorischer Innovationen konzentrieren. Nehmen wir als Beispiel den Bereich der Langzeitpflege. Neue technologische Hilfsmittel könnten Pflegekräften Echtzeitinformationen liefern, damit sie bei einem breiteren Spektrum von Aufgaben mehr Eigeninitiative und Autonomie walten lassen können. Dazu könnten variable Essenszeiten, die Übernahme zusätzlicher medizinischer Aufgaben und die Reaktion auf die Bedürfnisse der von ihnen betreuten Menschen gehören. Der Produktivitätsgewinn würde sich in einer höheren Zufriedenheit der gepflegten Menschen niederschlagen. Es würde die Zahl der Krankenhauseinweisungen, die Kosten im Gesundheitswesen und die Zahl chronischer Erkrankungen reduzieren, während es gleichzeitig die Autonomie, Handlungsfähigkeit und Arbeitszufriedenheit der Beschäftigten erhöht.
In ähnlicher Weise können wir in Bereichen wie dem Einzelhandel und dem Bildungswesen KI-Tools und andere Formen der technologischen Unterstützung einsetzen, um Verkäufern oder relativ gering qualifizierten Pädagogen zu ermöglichen, ihren Kunden oder Schülern individuellere und anspruchsvollere Dienstleistungen anzubieten. Sie könnten Dienstleistungen erbringen, die auf die spezifischen Bedürfnisse der Schülergruppen oder auf bestimmte Fragen zugeschnitten sind, mit denen sie bei ihren Verwaltungsaufgaben konfrontiert sind. Bei der industriellen Produktivität im Dienstleistungsbereich geht es nicht um Subventionen oder Handelsschutz. Es geht um den Einsatz organisatorischer und technologischer Innovationen, die den Dienstleistungsbeschäftigten helfen, produktiver zu werden und ein breiteres Spektrum anspruchsvollerer Aufgaben zu übernehmen.
Aber eine Sache ist klar: Diese Technologien helfen nicht immer denen, die sie brauchen. Tatsächlich führen sie oft zu schlechteren Arbeitsplätzen, nicht zu besseren. Hier müssen Regierungen und der öffentliche Sektor die Technologie so lenken, dass sie sich auf diese Art von industriepolitischen Maßnahmen für Dienstleistungen konzentriert. Dies erfordert Kooperationsvereinbarungen zwischen nationalen Regierungen, der EU-Ebene und subnationalen Einheiten, Kommunen und Regionen. Diese lokalen Experimente müssen eine wichtige Rolle dabei spielen, Wege zu solchen neuen Vereinbarungen zu finden. Wir stehen erst am Anfang der Auseinandersetzung mit diesen Fragen. Dabei sind sie von enormer Bedeutung. Denn die Zukunft unserer Gesellschaften hängt von der Schaffung guter Arbeitsplätze ab: als Grundlage für die Mittelschicht, als Grundlage für unsere Demokratien.
Wie solche Industriepolitik konkret aussehen könnte, hat die Europäische Dienstleistungsgewerkschaft hier gezeigt.
