Noch vor wenigen Minuten wimmelte es im Garten. Kinder, die an diesem sonnigen Maitag durch das Gras rannten, vorbei an Birnbäumen und einem großen Sandkasten, verschwanden kichernd in einer roten Hütte oder erklommen ein großes Holzgerüst. Ihr Kreischen hallte durch den Garten auf die Straße. Vom Rand betrachtet eine harmonische Kulisse, doch für den Erzieher Marc Richter* wird dieser Ort an manchen Tagen zum Alptraum.
17 Uhr: Richter sitzt auf einer kleinen, braunen Bank, auf der vorhin noch Kinder saßen, und blinzelt in die Sonne. Vor ihm auf dem Boden liegt eine zusammengeknüllte kleine Jacke. Gerade ist seine Schicht zu Ende gegangen. Achteinhalb Stunden lang hat er sich gekümmert, gespielt, aufgepasst und immer wieder getröstet. Zum ersten Mal an diesem Tag ist es nun still. Der 31-Jährige atmet tief durch und sagt: »Die letzten Tage waren der absolute Alptraum, ich bin froh, dass wir das geschafft haben.« Nur mit zwei Kolleginnen musste er 58 Kinder betreuen.
Auf den ersten Blick sieht man Richter die Erschöpfung nicht an. Weil er viel draußen ist, ist er leicht gebräunt. Aber wenn er ganz gehetzt spricht, zwischendurch immer wieder Silben verschluckt oder schnell durch den Garten läuft, merkt man: Ihm fällt es schwer, das Tempo des Tages hinter sich zu lassen. Seit sechs Jahren arbeitet er als Erzieher in einer Kita im Westen Berlins – einem von fünf Eigenbetrieben des Landes. Es gibt zwei Gruppen mit Kleinkindern, und eine Krippe für die ganz Kleinen. Ihre Eltern bewohnen die benachbarten Stadtvillen. Sie sind Ärztinnen, Juristen und Diplomatinnen.

Erziehende sind erschöpft – Kinder leiden
Obwohl Marc Richter erschöpft ist, hat er sich Zeit genommen, um mit uns zu sprechen. Es ist nicht die Müdigkeit nach einem langen Tag, sondern eine, die tiefer sitzt, die bleibt, auch wenn das Wochenende vor der Tür steht. Und davon will Richter erzählen. Dabei war heute einer von den guten Tagen. Das sind solche, an denen »keiner wegkommt« und »alle unverletzt bleiben«. Marc Richter schaut zum Gartentor, wo seine Kollegin gerade zum Abschied winkt. Er hebt die Hand, zögert kurz und sagt dann: »Ich hab sie wegen ihres Gemüts früher immer Sunny genannt, weil sie immer so viel gelacht hat, aber das mache ich schon lange nicht mehr.«
Richter ist einer von rund 778.000 Erziehenden in Deutschland, die fast vier Millionen Kinder in über 60.000 Kitas betreuen. Viele von ihnen sagen den gleichen Satz, wenn man mit ihnen über die Zustände in Kitas spricht: »So kann das nicht weitergehen.« In weiten Teilen Deutschlands herrscht ein drastischer Mangel an Betreuungsplätzen und Erzieherinnen. Die, die es gibt, halten das System am Laufen. Doch wie lange kann das noch gut gehen? Obwohl die Zahl der pädagogischen Betreuungskräfte in den vergangenen Jahren stärker gestiegen ist als die Zahl der betreuten Kinder, ist die Personalsituation in vielen Kitas angespannt. Etwa hunderttausend Fachkräfte fehlen.

Wie viele Kräfte in einer Kita arbeiten, regelt der Personalschlüssel. Auf dem Papier soll in Berlin eine Erzieherin ungefähr fünf Kinder betreuen, die jünger als drei sind. Bei den Älteren soll eine Erzieherin etwas mehr als sieben Kinder betreuen. Damit liegt Berlin in Bezug auf die Kleinsten unter dem bundesweiten Durchschnitt. Im Alltag sieht es oft anders aus. Marc Richter sowie seine beiden Kolleginnen mussten in den letzten Tagen täglich jeweils ungefähr 19 Kinder betreuen. Die tatsächliche Fachkraft-Kind-Relation fällt oft schlechter aus, selbst wenn es eigentlich genug Personal in einer Einrichtung gibt. Denn auch Erzieherinnen brauchen Pausen, Urlaube, Fortbildungen. Und ständige Erkrankungen wie Grippe oder Magen-Darm-Viren sorgen für kurzfristige Ausfälle. Psychisch ist die Belastung hoch, viele halten dem Druck nicht stand.
»Von den zwanzig Kollegen, mit denen ich mal angefangen hab, bin ich einer der Dienstältesten. Ich hab wirklich viele kommen und gehen sehen«, sagt Marc Richter und lacht kurz und abgehackt. Gerade von kurzfristigen Aushilfen merke er sich die Namen schon lange nicht mehr. Das lohne sich einfach nicht.

Rahel Dreyer ist Professorin für Pädagogik und Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre an der Alice Salomon Hochschule in Berlin. Auch sie weiß, dass in keinem anderen Beruf so viele Beschäftigte innerhalb der ersten Jahre wieder aussteigen: »Rund ein Viertel der Berufseinsteiger kehrt dem Beruf innerhalb der ersten Jahre den Rücken.«
Richter ist seit acht Jahren Erzieher. In der neunten Klasse habe er ein Schülerpraktikum in einer Kita gemacht und »danach nie wieder aufgehört«, sagt er. Oft fragen ihn die Kinder, ob er mit ihnen Fußball spiele. Meistens muss er nein sagen, weil er sonst die Aufsichtspflicht verletzt. Wenn er über die Kinder redet, die er betreut, wird seine Stimmte weich und er lächelt viel »Es ist hart, die Kleinen zu enttäuschen. Sie können ja am wenigsten dafür.« Denn eigentlich liebe er ja die Arbeit mit den Kindern. »Ich bin stolz darauf, Erzieher zu sein und die Welt öfter aus Kinderaugen zu sehen«, sagt er, »doch jetzt ist es an den meisten Tagen so«, sagt er und sein Gesicht verhärtet sich wieder, als ob er nur noch Brände löschen würde. »Alles Wertvolle an der Arbeit geht verloren.«