Die etwas älteren unter uns kennen es schon aus den Nullerjahren: Wenn die Wirtschaft über einen längeren Zeitraum stagniert, entbrennt der Verteilungskampf. Wer jetzt an für höhere Löhne und gegen überhöhte Gewinne streikende oder demonstrierende Arbeitnehmer denkt, liegt völlig falsch. Nein, es ist ein Verteilungskampf in Nadelstreifen. Oder im Business-Outfit, wie man heute sagen würde.
Damals ging es primär gegen die Macht der Gewerkschaften und ihre Fähigkeit, kollektiv Löhne und Arbeitsbedingungen auszuhandeln. Hunderte von bekannten und unbekannten Ökonomen sammelten sich damals unter der Führung des später zu zweifelhafter Berühmtheit gelangten Bernd Lucke hinter dem sogenannten Hamburger Appell, der nicht nur forderte, die Macht der Gewerkschaften einzuschränken, sondern auch, jeglicher staatlicher Stabilisierungspolitik eine Absage zu erteilen und den Sozialstaat zurückzubauen. Im Rahmen der Agenda 2010 hatten schon zuvor viele dieser Überlegungen Eingang in die Wirtschaftspolitik gefunden. Gleichzeitig wurden seinerzeit die Unternehmenssteuern und die Kapitalertragsteuern spürbar gesenkt. Es wurde spürbar umverteilt – nach oben.
Die Fehler wiederholen sich
Heute – nach drei Jahren Stagnation – tauchen im öffentlichen Diskurs die gleichen Argumente auf. Vor allem der Sozialstaat und hier insbesondere die Rente und das Bürgergeld werden als strukturelle Belastung unserer Wirtschaft beschrieben. Damit werden erneut Kürzungen im Sozialbereich ausdrücklich gefordert. Zugleich sind schon steuerliche Erleichterungen für die Gastronomie, eine Senkung der Körperschaftssteuer und temporär verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten bereits beschlossen worden. Die erneute Umverteilung nach oben hat also bereits wieder begonnen.
Das wäre verkraftbar, wenn auf diese Weise ein Weg aus der Stagnation beschritten würde. Anders als versprochen, sind die privaten Investitionen bislang jedoch nicht wieder angesprungen. Das war leider nach den Erfahrungen der Vergangenheit zu erwarten. Die jüngsten Glorifizierungen der angebotsorientierten Agenda 2010 mit ihrer Umverteilung nach oben, in denen sie für die relativ gute ökonomische Performance im vergangenen Jahrzehnt verantwortlich gemacht wird, kann man schließlich aus guten Gründen skeptisch sehen. Es ist bestenfalls eine Halbwahrheit. Der Aufschwung, den Deutschland ab 2006 bis zur Finanzmarktkrise nahm, war ein globaler Aufschwung. Die wirtschaftliche Dynamik in Deutschland unterschied sich seinerzeit nicht grundlegend von jener anderer Länder wie Frankreich, die keine solchen angebotsseitigen strukturellen Veränderungen durchlaufen hatten.
Man kann allenfalls nachweisen, dass die erzwungene Lohnzurückhaltung die Konkurrenzfähigkeit auf den Exportmärkten gesteigert hat. Die gleiche Lohnzurückhaltung hat aber die Binnennachfrage gedrückt. Eine mittlerweile fast allseits anerkannte Spätfolge der Lohnschwäche war zudem die gemessen am EZB-Inflationsziel zu niedrige Inflationsrate, die zur finanziellen Instabilität des Euroraums in der Finanzkrise beigetragen hat.
Erst nach der Finanzkrise, die mit entschlossener Nachfragepolitik überwunden wurde, setzte sich Deutschland von anderen größeren Volkswirtschaften ab. Seinerzeit kam auch die Umverteilung nach oben zum Stillstand. Durch die spätere Einführung des Mindestlohns nahm die Ungleichheit am unteren Ende der Einkommensverteilung sogar ab.
Zurück auf Anfang?
Der Irrglaube, eine zähe Stagnation könne nur durch eine forcierte Angebotspolitik mit Umverteilung nach oben überwunden werden, hält sich ebenso zäh wie die Stagnation. Richtig ist: Wir hatten einen harten, negativen Angebotsschock durch die Energiekrise mit Russland. Dieser wurde aber durch zahlreiche völlig gerechtfertigte angebotsseitige Stützungsmaßnahmen aufgefangen. Richtig ist auch: Viele Industriezweige stecken mitten in einem Strukturwandel, der durch ebenfalls auf der Angebotsseite ansetzende strategische Industriepolitik und eine durchgreifend verbesserte Infrastruktur unterstützt werden muss.
Die Hoffnung, nun durch Kürzungen im Sozialbereich und immer weitere Steuervorteile für Unternehmen die Wirtschaft wieder in Fahrt zu bringen, ist jedoch zum Scheitern verurteilt.
Solche Kürzungen mögen zwar die Beiträge zur Sozialversicherung etwas dämpfen. Das freut verständlicherweise Unternehmen wie Beitragszahler. Weniger erfreuen wird sie, dass die hierdurch eingesparten Mittel gleichzeitig einen Verlust an Nachfrage bedeuten. Kranke, Alte oder Arbeitslose, die den Sozialstaat in Anspruch nehmen, werden weniger Geld zur Verfügung haben und entsprechend weniger ausgeben. Das trifft am Ende auch die Unternehmen, zumindest jene, die für den Binnenmarkt produzieren.
Das ist in der gegenwärtigen Lage besonders riskant. Denn anders als in den Nullerjahren ist ein die deutsche Wirtschaft stimulierender globaler Aufschwung höchst ungewiss. Schließlich ist die Globalisierung, vorsichtig ausgedrückt, merklich ins Stocken geraten.
Zölle und andere Hürden, die national ansässige Unternehmen bevorzugen, breiten sich derzeit weltweit aus, sodass nicht nur die Vorteile globaler Arbeitsteilung schwinden, sondern auch die globale Nachfrage als Wachstumstreiber auszufallen droht. Das verleiht der Binnennachfrage eine erhöhte Bedeutung für Wachstum, Konjunktur und Beschäftigung. Und deshalb ist es riskant, an dieser Stelle zu kürzen.
Das alles spricht nicht gegen dringend notwendige Effizienzsteigerungen im Sozialsystem – das hieße ja nichts anderes, als dass man mit weniger Mitteln das Gleiche oder mit gleichen Mitteln mehr erreichen kann. Hier anzusetzen ist aller Mühen wert. Denn wie meinte schon ein Altmeister der modernen Ökonomie, Paul Samuelson: »Der Herr gab uns zwei Augen, um beides zu sehen, Angebot und Nachfrage.«