Die Wirtschaftswissenschaft ist interessengeleitet. Dies beginnt bereits in den grundlegenden Zusammenhängen, die – je nach dem Vorteil bestimmter Gruppen – postuliert werden. So versteht der Mainstream den Lohn als Geldsumme, den Arbeitsaufwand als Lohnsumme oder den Arbeitsmarkt als unbeschränkten Wettbewerb. Dieses verkürzte und unvollständige Verständnis schlussfolgert dann im Ergebnis, dass zum Beispiel Arbeit nur Kosten sind, die es zu minimieren gilt und schließlich der Weg zur Vollbeschäftigung über niedrige Entlohnung der Arbeit geht. In unregelmäßigen Abständen wird gefordert, die (absoluten) Lohnkosten zu senken oder Arbeitsbeziehungen zu flexibilisieren; auch die erneut aktuelle Forderung, gesetzliche Feiertage zu streichen, basiert auf diesem Verständnis. Was im ersten Moment intuitiv sinnvoll oder plausibel erscheinen mag, ist allerdings falsch.
- Arbeit und Arbeitszeit sind nicht nur Kosten, sondern auch Leistung,
- die gesamte Arbeitszeit wird nicht nur von Kosten bestimmt, sondern von auch von anderen Märkten,
- der Arbeitsmarkt ist kollektiv und koordiniert organisiert (zumindest in weiten Teilen Europas und insbesondere in Deutschland); er unterliegt also Wettbewerbsbeschränkungen.
Lohn ist mehr als eine Geldsumme
Eine unübliche und deshalb auch in Vergessenheit geratene Fundierung zur Messung und Bedeutung der Arbeitszeit ist die Unterscheidung zwischen labour embodied und labour commanded, also enthaltene und gekaufte Arbeit. Erstere spiegelt die in der Ware oder Dienstleistung verkörperte Arbeit oder Arbeitszeit wider. Wenn eine Friseurin in einer Arbeitsstunde zwei Haarschnitte schneidet, ist ein Haarschnitt eine halbe Arbeitsstunde »wert« – das entspricht labour embodied. Labour commanded dagegen ist die Arbeitszeit, die mit der Ware oder Dienstleistung vom Kunden gekauft wird, also die Kaufkraft des Lohns. Bei einem Lohn von 15 Euro pro Stunde und einem Preis von 15 Euro für einen Haarschnitt ist der Haarschnitt eine ganze Arbeitsstunde »wert«; das ist der Preis. Also kaufe ich mit dem Haarschnitt eine Arbeitsstunde, die tatsächlich in der Dienstleistung enthaltene Arbeitszeit ist jedoch eine halbe Stunde.
Die Unterscheidung zwischen labour embodied und labour commanded verdeutlicht, dass Löhne nicht nur Kosten, sondern auch Leistung sind, die zudem die Quelle des Profits ist. Oder anders formuliert: Leistung zahlt nicht nur Löhne, sondern auch Gewinne. Deshalb ist es eine verkürzte Betrachtung, den Lohn nur als Geldsumme beziehungsweise Kosten zu verstehen.
In diesem Kontext kann auch die Fehldeutung der Lohn-Preis-Spirale korrigiert werden. Das herrschende Fehlverständnis von diesem Zusammenhang ist: Eine Erhöhung der Löhne führt zum Preisanstieg, weil Lohnerhöhungen für Unternehmen Kostenanstieg bedeuten und diese die gestiegenen Kosten auf die Preise überwälzen. Im Ergebnis werden Gewerkschaften in der nächsten Tarifverhandlungsrunde zumindest den Inflationsausgleich als Lohnerhöhung fordern, die dann wiederum zu weiteren Preiserhöhungen führen wird – und so weiter. Tatsächlich geht aber nur dann ein Druck von Löhnen auf Preise aus, wenn Lohnstückkosten steigen; also wenn Löhne stärker steigen als die Produktivität (Leistung). Denn im Falle größerer (oder gleichstarker) Produktivitätssteigerung sind Lohnerhöhungen eben keine Kostensteigerungen für Unternehmen.