Noch streiten Union und SPD über viele Themen und Details. Doch auf ein massives Entrechtungs- und Verelendungs-System für erwerbslose Menschen haben sich die Parteien in den Koalitionsverhandlungen bereits geeinigt. Nichts anderes steckt hinter der geplanten Abschaffung des Bürgergelds und der Einführung der sogenannten »Neuen Grundsicherung«. Nennen wir sie Merz I. Wer sich das aktuelle Papier aus den Koalitionsverhandlungen genauer anschaut, wird schnell feststellen, dass die Ampelkoalition sich die letzten vier Jahre Ringen ums Bürgergeld hätte sparen können. Wir sind wieder genau da, wo wir zuvor mit Hartz IV waren.
Aber es ist sogar schlimmer: Denn das gesellschaftliche Klima ist viel vergifteter als vor der Einführung von Hartz IV vor zwanzig Jahren. Während gegen die Agenda 2010 und Hartz IV noch Hunderttausende auf die Straße gingen, ist die Solidarität mit Menschen in Armut heute erschreckend niedrig. Protest gegen den sozialen Kahlschlag ist jedenfalls nur eine vage Erinnerung an vergangene Zeiten.
Stattdessen finden Forderungen nach härteren Sanktionen und niedrigeren Regelsätzen in großen Teilen der Gesellschaft Zustimmung. Dieses Phänomen kommt nicht von Ungefähr. Die Kampagne gegen das Bürgergeld wurde von CDU und CSU bereits vor seiner Einführung strategisch geplant und kontinuierlich gefahren. Auf dem Rücken der Ärmsten haben die Union und ebenso die AfD maßgeblich ihre Zustimmung in der Bevölkerung gesteigert – während die SPD von Jahr zu Jahr immer weiter eingeknickt ist und damit ihre eigene Reform der Reform lächerlich und nun anscheinend unnötig gemacht hat.
Die Neue Grundsicherung im Koalitionsvertrag 2025
Aber was genau verbirgt sich nach aktuellem Verhandlungsstand hinter der »Neuen Grundsicherung«? Konsens gibt es schon beim Thema Sanktionen. Sie sollen schneller, einfacher und unbürokratischer umgesetzt werden können. Denkbar sind hier die bereits unter der Ampel-Koalition verabschiedeten, aber noch nicht umgesetzten Verschärfungen. Diese sehen vor, dass bereits ein erstes abgelehntes Arbeitsangebot eine 30 Prozent-Sanktion für drei Monate zur Folge haben soll – statt wie bisher im Bürgergeld zunächst zehn Prozent für einen Monat. Bei einem Regelsatz von nur 556 Euro ist eine solche finanzielle Kürzung von 168,90 Euro für drei Monate kein Pappenstiel und bedeutet blanke Not. Das nimmt niemand leichtfertig hin. Auch die umstrittenen Totalsanktionen beim wiederholten Ablehnen eines Arbeitsangebots sollen vermehrt angewendet werden können, wobei die konkrete Ausgestaltung nicht näher beschrieben wird.
Genau wie zu Hartz IV-Zeiten soll zusätzlich der Vermittlungsvorrang wieder zentral für die Arbeit in den Jobcentern werden. Zumindest in der Theorie war das im Bürgergeld anders, was eine große Errungenschaft war: Weiterbildung und nachhaltige Vermittlung waren wichtiger als kurzzeitige Vermittlung in irgendwelche Jobs. Allerdings konnte das in der Praxis kaum umgesetzt werden, weil den Jobcentern Jahr für Jahr die Mittel gestrichen wurden. Gerade hier hätte aber viel Potenzial gelegen, um gering qualifizierten Menschen wirklich langfristig eine Perspektive zu bieten. Die potenzielle neue Regierung vertut hier eine große Chance und wird mit diesem Rückschritt sehr viel Unglück säen.
Mit der Kombination aus den verschärften Sanktionen und dem Vermittlungsvorrang kann das Recht auf freie Berufswahl ganz leicht ad absurdum geführt werden. Das ist derzeit im Bürgergeld schon so, wird aber mit den neuen Regelungen noch problematischer für die Betroffenen werden. Davon profitieren vor allem Arbeitgeber, die schlechte Löhne zahlen. So bleiben viele Menschen trotz Arbeit arm und müssen ergänzende Sozialleistungen beantragen, beziehungsweise landen häufig auch nach kurzer Zeit wieder im Jobcenter. Das ist nicht nur für die Biografie und das Wohlergehen der einzelnen Menschen schlecht, sondern letztendlich auch für die Staatskasse.
Die Inflation wird nicht mehr rechtzeitig einberechnet
Ebenfalls beschlossen wurde die faktische Kürzung des Regelsatzes. Der Berechnungsmechanismus soll zurückgedreht werden auf Vor-Corona-Zeiten. So soll der Regelsatz wieder verzögert an die Inflation angepasst werden. Ganz konkret bedeutet das, dass die Grundsicherungsbeziehende die Inflationsrate vorfinanzieren müssen. Am Ende des Januars dürfte das nur ein paar Euro ausmachen, am Ende des Jahres aufsummiert aber ein paar dutzend Euro. Zum Jahreswechsel wird er ausgeglichen und beginnt erneut. Je schneller die Preise im Jahr steigen, desto nachteiliger wird es – als ob die Politik nichts aus der Preiskrise gelernt hat. Auch wenn der Regelsatz im Bürgergeld nach wie vor viel zu niedrig war, war die schnellere Anpassung der Regelsätze an die Inflation ein kleiner Fortschritt, den die SPD gegenüber der Union unbedingt hätte verteidigen müssen.
Außerdem soll die Karenzzeit beim Schonvermögen abgeschafft werden. Bisher konnte die erste Person in einer Bedarfsgemeinschaft maximal 40.000 Euro ihres Vermögens behalten, zumindest im ersten Jahr des Bürgergeldbezugs. Das war gut, vor allem für Selbstständige oder Menschen, die für das Alter etwas zurückgelegt haben. Nun muss dieses Geld bis auf einen noch unbestimmten kleinen Betrag sofort aufgebraucht werden, bevor die »Neue Grundsicherung« greift.
Offene Fragen zur »Neuen Grundsicherung«
Das war aber noch nicht alles. Wenn es nach der Union geht, soll darauf hingewirkt werden, dass die »Sozialstandards europaweit angeglichen werden«, um angeblicher Einwanderung in die Sozialsysteme vorzubeugen. Zivilgesellschaftliche Hilfe beim Umgang mit der Bezahlkarte für Geflüchtete soll außerdem kriminalisiert werden – um nur zwei Punkte zu nennen, die besonders fragwürdig sind und vor allem gegen geltendes Recht verstoßen würden.
Spannend ist die Frage, was sich hinter der Kommission zur »Modernisierung und Entbürokratisierung« verbirgt. Sie soll bis Ende 2025 unter anderem darüber Ergebnisse liefern, wie Leistungen pauschaliert werden können. Erahnen lässt sich, dass hier zum Beispiel gezielt die Kosten für Unterkunft und Nebenkosten gesenkt werden sollen, wie es bereits von der Union gefordert wurde. Das wäre fatal. Bereits jetzt ist kaum Wohnraum für Menschen im Bürgergeld vorhanden, der von den Jobcentern voll übernommen wird. Deswegen zahlen 325.000 Haushalte aus ihrem kleinen Regelsatz durchschnittlich rund 109 Euro monatlich zur Miete dazu und leben dadurch dauerhaft unter dem Existenzminimum. Pauschalierte Wohnkosten würden zu noch mehr Armut und Verdrängung, schlimmstenfalls zu Obdachlosigkeit führen. Tragisch ist, dass mit dem Bürgergeld eine Überarbeitung der Übernahme der Wohnkosten zugunsten der Betroffenen angekündigt wurde, denn Wohnarmut ist ein bekanntes und drängendes Problem. Aber es kam nie zu einem entsprechenden Gesetzespaket.
Union und SPD kassieren alle Fortschritte bei den Ärmsten
Wie ein roter Faden zieht sich durch die Bürgergeld- und Sozialstaats-Debatte das Vergessen all der Menschen, die niemals aus dem System rauskommen werden. Dabei handelt es sich tragischerweise um die Mehrheit der 5,5 Millionen Menschen in Leistungsbezug. Außerdem wird darüber, dass schätzungsweise 40 Prozent der Menschen, die Anspruch auf Bürgergeld hätten, es nicht abrufen, kein Sterbenswörtchen gesprochen. Vergessen ist eine Kindergrundsicherung, Respekt, Augenhöhe, Menschenwürde, Teilhabe und Chancengleichheit. All das ist scheinbar nur noch sozialromantischer Schnickschnack oder »Vollkaskomentalität«. Stattdessen werden Menschen in Armut totgeschwiegen, ignoriert oder aber unter Generalverdacht gestellt, um die Erzählung von »Jeder kann es schaffen« zu legitimieren. Die Bilanz ist bitter: Es wurden mit dem Bürgergeld kaum nennenswerte Kleinigkeiten für die Menschen gewonnen. Aber selbst die werden mit der »Neuen Grundsicherung« kassiert.
Es ist nicht verwunderlich, dass die Union kein Interesse an einer echten Verhandlungsgrundlage für Arbeitnehmende hat, denn genau das wäre eine menschenwürdige Grundsicherung. Je schlechter das soziale Sicherungssystem, desto wahrscheinlicher ist es, dass Menschen auch Arbeit zu unwürdigen Bedingungen und schlechten Löhnen machen, anstatt um Mindeststandards zu ringen. Die Union hat noch nicht einmal Interesse an einem armutsfesten Mindestlohn. Beides wäre zum Nachteil für milliardenschwere Unternehmen, die von billigen Arbeitskräften profitieren und die Jahr für Jahr Parteispenden locker machen, um genau diese Politik zu fördern. Die Verhandlungen sind noch nicht beendet und das ist nur ein Zwischenstand des Desasters. Klar ist aber jetzt schon, dass die »Neue Grundsicherung« fatale Folgen für die Menschen haben wird. Während der Niedriglohnsektor ein Loblied auf sie singen wird.