Nach jahrelangen Spekulationen in den Boulevard-Titeln des Landes erzählt uns Aykut Anhan selbst, was eigentlich los war. Anhan – der Rapper Haftbefehl – kämpft seit Jahren mit seiner Drogensucht, seiner Doppelrolle als Rapper und Vater, und damit, die Traumata seiner Kindheit zu verarbeiten. Zuschauerinnen der Netflix-Dokumentation, die binnen weniger Tage auf Platz 1 kletterte, erleben ein Maximum an Ehrlich- und Verletzlichkeit, das einen nur erschüttern kann. So sehr die Aufnahmen des Stars, in denen er sich selbst als »Dreck« bezeichnet, in denen er mehrfach am Tod nur knapp vorbeischrammt, ins Mark treffen, so sehr drängen sie einem breiten Publikum auf, dass die gezeigte Realität – die Prekarisierung von Städten wie Offenbach, die staatlich streng limitierten Perspektiven für migrierte Menschen, die tief reichenden Wurzeln von Armut, Gewalt und Hass – viele Menschen teilen. Es lohnt sich, in drei Themen, die die Doku aufreißt, tiefer einzusteigen.
Die strukturellen Ursachen
1985 in Offenbach am Main geboren, wuchs Aykut Anhan im siebten Stockwerk des »Mainpark« genannten Komplexes auf – einer Hochhaussiedlung mitten in der Stadt. Dort lebte er gemeinsam mit seinen Eltern, einem älteren und einem jüngeren Bruder. Verschwommene Bilder und Videos von Familienurlauben der Anhans am Mittelmeer – der Vater, der den Sohn umarmt, und die Brüder, die gemeinsam lachen und planschen – ziehen sich durch die Doku. Sie erinnern immer wieder daran, wie sich das Leben der Familie hätte entwickeln können, wäre alles nicht so gewesen, wie es war. Denn im Alltag in Deutschland kämpfte die kurdische Familie: der Vater mit seiner Spielsucht, die Kinder mit fehlender Orientierung – über die Mutter erfährt man nicht viel (doch dazu später mehr). Haftbefehls jüngerer Bruder Capo erzählt, dass ihr Vater »sehr, sehr reich« gewesen sei, sie aber trotzdem »in der vielleicht abgefucktesten Gegend von Frankfurt« gelebt haben. Der Vater versteckte unter dem Teppich im Schlafzimmer 2 Millionen Mark und trug laut Haftbefehl »nur Versace und Armani«, während die Familie in prekären Verhältnissen lebte – weshalb, bleibt nebulös. Als möglicher Grund wird die Spielsucht des Vaters genannt, er sei »professioneller Zocker« gewesen, erzählt Capo. Er habe alles gewinnen, aber auch jederzeit alles verlieren können.
Anwesend sei er jedenfalls kaum gewesen. Haftbefehl zufolge sei er nur alle paar Tage und nur für kurze Zeit nach Hause gekommen. In den acht Jahren, in denen der junge Aykut bei den Kickers Offenbach Fußball gespielt hat, sei er nicht einmal zum Training gekommen. Später, im Jahr 1999, beging sein Vater Suizid – und Aykut, damals 13 Jahre alt, war Zeuge dessen. Dieses traumatisierende Ereignis zieht sich nicht nur durch Haftbefehls Diskografie (vor allem durch die wiederkehrende Songreihe »1999«, Parts 1 bis 5), sondern auch durch die Doku: Der Vater ist immer wieder Bezugspunkt für die psychischen Abgründe, in die Aykut steigt.
In diesem Alter begann der junge Aykut auch, Kokain zu nehmen. Er vertrieb seine Teenagerzeit damit, Gras zu rauchen, auf der Straße rumzuhängen, zu dealen: »Unsere Jugend war so kaputt«, sagt er. Aykut bezeichnet sich selbst als »Straßenjunge«, zu Hause begann er im frühen Teenager-Alter, massenweise Hiphop-CDs zu hören. Seine Zeit verbrachte er jedenfalls nicht mit Schule oder Lernen, erzählt er. Doch Aykut lernte in dieser Zeit, Musik zu machen, was ihn später in den Reichtum und aus dem Mainpark katapultieren würde – und das eingebettet in ein Umfeld, in dem eigentlich nichts gedeihen kann.
Denn Offenbach ist noch immer, war aber in den 90er Jahren besonders arm. Und dann war da immer Frankfurt. Die Finanzmetropole, die vor allem Menschen anzieht, die sehr viel Geld verdienen wollen, als Nachbarn zu haben, war für Offenbach nicht immer von Vorteil: Den Mietspiegel zog es mit hoch, die Lebensmittelpreise auch, doch die Jobs gab und gibt es eher beim größeren Nachbarn. Offenbach fehlt es daher schon lange an Steuereinnahmen, an Geld. Der Sparzwang brachte die Stadt vor allem in den 90er Jahren dazu, öffentliche Infrastruktur rabiat abzubauen, sie nannte es das »Offenbacher Modell«, dabei waren neoliberale Sparprogramme seinerzeit keine Ausnahmeerscheinungen, sondern die Regel. Offenbach stellte auch Projekte ein, die mit den Armutsbetroffenen zusammen für Verbesserungen sorgen sollten, zum Beispiel eines zum Ausbau der Lohwald-Siedlung, in der besonders große Armut herrschte. Und es habe in den 90er Jahren noch zu viele Schwimmbäder gegeben, daher müssten drei von ihnen geschlossen werden, hieß es. Heute gibt es zu wenige. Auch Theater, eine Bibliothek und zwei Jugendzentren mussten der Ideologie des Neoliberalismus weichen, und, wie überall, veräußerte die Stadt Wohnungen aus ihrem Bestand an die Privatwirtschaft. »Ausgeglichene Haushalte« heißt eben allzu oft auch »Sparen beim Nötigsten«, bei den Menschen – ohne Weitsicht, ohne Mitgefühl.
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