Vor einer Woche verkündete Bundeskanzler Friedrich Merz auf dem Parteitag der niedersächsischen CDU: »Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar.« Damit vollzieht er im Wesentlichen das nach, was Arbeitgeberlobbyisten und neoliberale Ökonomen angesichts der Wirtschaftskrise seit einiger Zeit gebetsmühlenartig fordern. Sie leiten aus der Wirtschaftsschwäche die Notwendigkeit nach radikalen »Strukturreformen« ab – oder einfacher gesagt nach heftigem Sozialabbau, das heißt Kürzungen bei sozialen Leistungen.
An markigen Vorschlägen mangelt es nicht. Dabei bleibt die Debatte längst nicht mehr beim Bürgergeld und dessen möglichst drastischer Kürzung für angebliche Arbeitsverweigerer stehen. Mittlerweile umfasst sie sämtliche Bereiche des Sozialstaats. Fast kein Tag vergeht, an dem nicht wegen Wirtschaftsschwäche oder Zwang zur Haushaltskonsolidierung irgendein heftiger Kürzungsvorschlag propagiert wird. Im Gesundheitswesen wird etwa die Wiedereinführung einer Praxisgebühr gefordert. Oder es werden Karenztage für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ins Spiel gebracht (dabei würde an den ersten Krankheitstagen kein Lohn mehr gezahlt.) Sogar ein ganzes Karenzjahr wollen manche der Pflegeversicherung verpassen, was bedeuten würde, dass die Pflegeleistungen im ersten Jahr von den Versicherten komplett aus eigener Tasche gezahlt werden müssten. Für die Rentenversicherung wird neben der Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters eine Beschränkung der Rentenerhöhungen lediglich auf einen Inflationsausgleich gefordert. Oder besonders kreativ: Die Deckelung des Bundeszuschusses, den der Bund jährlich an die Rentenversicherung überweist.
Das Paradoxe an den Maßnahmen: Zur Schließung der gigantischen Lücke im Bundeshaushalt von 172 Milliarden Euro allein von 2027 bis 2029 würde eigentlich keiner der Vorschläge nennenswert beitragen. Denn die meisten Kürzungsvorschläge beziehen sich auf das beitragsfinanzierte Sozialversicherungssystem bei Kranken, Pflege- und Rentenversicherung und nicht auf den Bundeshaushalt. Die Deckelung des Bundeszuschusses zur Rentenversicherung würde zwar tatsächlich den Bundeshaushalt entlasten, dafür aber entsprechende Löcher in der Rentenkasse reißen, die dann durch Beitragssatzanhebungen geschlossen werden müssten – der Vorschlag ist irrsinnig! Bleiben noch die Kürzungen beim Bürgergeld. Hier könnten zwar durch Verschärfung von Zumutbarkeitsregelungen und härtere Sanktionen – oder klarer formuliert: Drangsalierung Bedürftiger – einige Auszahlungen verringert werden. Dabei dürfte jedoch allenfalls ein niedriger einstelliger Milliardenbetrag zusammenkommen, denn das Bundesverfassungsgericht hat Kürzungen beim Existenzminimum enge Grenzen gezogen.
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Kürzungen sind der falsche Weg
Aber ist die Wirtschaftslage denn nicht so furchtbar schlecht, dass es jetzt drastische Maßnahmen braucht? Gerade in den letzten beiden Wochen fehlte es nicht an dramatischen Schilderungen der Wirtschaftslage. Jeder neue Konjunkturindikator und jede neue Statistik wurde von manchen Medien und Verbandsvertretern zum Beleg genommen, dass die Lage bedrohlich sei und die neue Bundesregierung bei der »Wirtschaftswende« versagt habe. Das ist jedoch kompletter Humbug: Tatsächlich hat die Bundesregierung – bei aller berechtigten Kritik in manchen Punkten – eine Menge getan, um die Konjunkturlage zu verbessern. Das Finanzpaket ermöglicht massive kreditfinanzierte öffentliche Investitionen. Der noch vor der Sommerpause verabschiedete Investitionsbooster dürfte vor allem wegen der stark vergünstigten steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten auch die privaten Unternehmensinvestitionen ankurbeln. Selbst die nicht zu Unrecht viel gescholtenen Maßnahmen bei Gastromehrwertsteuer, Mütterrente und Pendlerpauschale sind für sich genommen erst einmal expansiv, geben der Konjunktur also einen gewissen Schub. Viele Stimmungsindikatoren für die Wirtschaft haben sich bereits verbessert, und die meisten Wirtschaftsforschungsinstitute haben ihre Prognosen für 2026 – vor allem wegen der finanzpolitischen Maßnahmen der Bundesregierung – nach oben revidiert. Klar ist aber, dass die Maßnahmen nicht jetzt schon wirken können, denn das Geld muss dafür ja überhaupt erst einmal ausgegeben werden, wofür es verabschiedete Bundeshaushalte braucht. Genau die hat die Bundesregierung in extrem kurzer Zeit auf den Weg gebracht, doch ein ordnungsgemäßes Haushaltsverfahren und darauf folgende sinnvolle Ausgaben brauchen eben etwas Zeit. Bei dem Vorwurf, die Maßnahmen der Bundesregierung wirkten ja gar nicht, handelt es sich also ganz klar um eine inszenierte Empörung. Inszeniert werden häufig auch der Schock und die Beunruhigung über neue Daten, wie die Schrumpfung des BIPs im zweiten Quartal 2025 oder der Anstieg der Arbeitslosenzahl auf zuletzt über 3 Millionen. Dabei war eine Gegenbuchung zum positiven ersten Quartal beim BIP eigentlich erwartet worden, und dass die Arbeitslosenzahl nach über fünf Jahren Krise die Drei-Millionen-Marke übersteigen würde, überrascht niemanden, der sich ein bisschen mit dem Arbeitsmarkt beschäftigt hat.
Hiobsbotschaften drosseln die Nachfrage
Doch sind die schmerzhaften »Strukturreformen« nicht dennoch zur Ankurbelung der Wirtschaft erforderlich? Nein, denn hinter dem seit Jahrzehnten vielfach missbrauchten Begriff der »Strukturreform« verbergen sich schlicht harte Sozialkürzungen. Die mögen zwar in einigen Fällen den Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge bremsen. Dem steht aber der gesamtwirtschaftlich negative Nachfrageeffekt durch die gekürzten Einkommen oder gestrichene öffentliche Leistungen entgegen. Wenn die Rentner oder Bürgergeldempfänger weniger Geld haben, werden sie auch weniger Geld ausgeben, der private Konsum – mit 60 Prozent Anteil am Bruttoinlandsprodukt die größte Nachfragekomponente – wird gebremst. Mit Sozialkürzungen leistet man sicher keinen Beitrag zum Aufschwung. Schlimmer noch: In der aktuell weiterhin fragilen Konjunkturlage, in der alle nach langen Krisenjahren endlich einen Konjunkturaufschwung herbeisehnen, ist es extrem kontraproduktiv, den Menschen Hiobsbotschaften zu senden. Wer täglich erzählt, wie dramatisch die Lage sei und was man sich in Zukunft alles nicht mehr leisten könne, trägt massiv zur Verunsicherung und Verängstigung der Menschen bei. Die werden dann sicher nicht die Läden oder Internetshops stürmen und Einkäufe tätigen, sondern die Konsumenten werden ihr Geld zusammenhalten und sparen – Gift für den Aufschwung!
Der dem marktliberalen Idol Ludwig Erhard zugeschriebene Ausspruch, wonach die Wirtschaft zu 50 Prozent Psychologie sei, spräche in der aktuellen konjunkturellen Lage also wohl für eine gewisse Zurückhaltung bei pessimistischen Prophezeiungen und Sozialstaatsdebatten. Wer diese Debatten dennoch ständig anzettelt, nimmt in Kauf, dass die Konjunkturerholung Schaden nimmt. Man könnte von Verrat am Aufschwung sprechen.