Politikerinnen und Politiker der Union und SPD greifen nach einer AfD-Anfrage im Bundestag das Bürgergeld von mehreren Seiten an. Unter anderem forderten hochrangige Vertreter Sanktionen und ein Vorgehen gegen Betrug, aber auch einen Ausschluss von ukrainischen Geflüchteten aus der Sozialleistung. Die vielen Wortmeldungen kamen auf, nachdem eine Antwort des Bundessozialministeriums auf eine kleine Anfrage der AfD ergab, dass der Staat im Jahr 2024 rund 46,9 Milliarden Euro an Hilfen gezahlt hat – rund vier Milliarden Euro mehr als im Jahr davor. Diese Zahl nahmen hochrangige Politikerinnen und Politiker von SPD, CDU und CSU zum Anlass, weitreichende Reformen beim Bürgergeld zu fordern.
Carsten Linnemann will Reformen nach dem Vorbild Schröders
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sagte der FAZ, Reformen seien notwendig. Die Geschichte zeige, Reformen würden erst dann angegangen, »wenn das Land mit dem Rücken zur Wand steht«. Er verglich die aktuelle Lage mit einem Zeitpunkt »vor rund zwanzig Jahren«, als Deutschland mehr als fünf Millionen Arbeitslose gehabt habe. Die Antwort sei damals die unter Schröder eingeführte Agenda 2010 mit Sozial- und Arbeitsmarktreformen gewesen. Linnemann sagte dazu mit Blick auf die nach seiner Ansicht geschwächte deutsche Wettbewerbsfähigkeit: »Das war mutig. Diesen Mut benötigen wir heute wieder.«
Vorgehen gegen Betrug
Aus SPD und CDU kam die Kritik, das Bürgergeld werde ausgenutzt und solle nur denjenigen zugutekommen, die nicht arbeiten können. Bereits vor mehreren Wochen hat Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) in einem Deutschlandfunk-Interview gefordert, Missbrauch beim Bürgergeld stärker zu bekämpfen. Es gebe »ausbeuterische Strukturen«, in denen Menschen aus osteuropäischen Ländern nach Deutschland gelockt würden. Über diese würde dann mit geringfügigen Mini-Arbeitsverträgen Aufstockung beantragt und die Zahlungen gingen dann direkt an die Drahtzieher.
Während sie gegen Schwarzarbeit vorgehen will, sei die Zahl der »Totalverweigerer« gering und bei ihnen daher nicht viel zu sparen. Für Sanktionen, zum Beispiel nach Terminversäumnissen, sprach sie sich dennoch aus. Bas will nach der Sommerpause einen Entwurf für eine Bürgergeld-Reform vorlegen, die dann 2026 in Kraft treten könnte.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Dirk Wiese, sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND): »Wer das System ausnutzt, dem muss mit klaren Sanktionen begegnet werden. Bandenmäßiger Betrug oder Schwarzarbeit – wie etwa im Ruhrgebiet – dürfen nicht toleriert werden.«
2024 gab es 826.000 sogenannte »Aufstocker«. Sie erhalten Bürgergeld, weil ihr Einkommen nicht zum Leben reicht.
Auf »Aufstocker« entfielen 2024 rund 6,99 Milliarden sowie 11,61 Milliarden für Bedarfsgemeinschaften mit mindestens einem »Aufstocker«.
2024 gab es 421 Fälle von »bandenmäßigem Leistungsmissbrauch«.
Quelle: dpa
Auch Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) dringt auf eine schnelle Reform. Das sei in der Koalition mit der SPD verabredet, sagte die CDU-Politikerin am Rande eines Besuchs des Halbleiterkonzerns Infineon in Dresden. »Es muss gelten, dass sich Arbeiten mehr lohnt als zu Hause bleiben«, sagte Reiche. »Diejenigen, die zur Arbeit gehen, müssen das Gefühl haben, sie haben am Ende mehr in der Tasche als die, die das nicht tun.« Alle, die dies könnten, müssten am Arbeitsmarkt teilnehmen »und sich einen Teil dessen, was sie zum Leben brauchen, eben auch verdienen«.
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Tilman Kuban sagte dem RND, Bürgergeld könne es »nur noch für die geben, die wirklich auf Hilfe angewiesen sind – nicht für die, die nicht arbeiten wollen.« Es gehe beim Bürgergeld »in erster Linie nicht nur um Einsparungen, sondern vor allem um Gerechtigkeit und Fairness.«
Quelle: Tagesschau, Spiegel
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hat sich bereits vor mehreren Wochen in seinem ARD-Sommerinterview für eine Bürgergeld-Reform ausgesprochen. Er schlug in dem Gespräch unter anderem eine Deckelung der Mietkosten oder eine maximal Wohnungsgröße vor.
Ukrainerinnen und Ukrainer sollen kein Bürgergeld mehr erhalten
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hat im ZDF-Sommerinterview angestoßen, ukrainischen Geflüchteten kein Bürgergeld mehr zu gewähren, sondern Leistungen wie Asylbewerbern. Diese fallen geringer aus und werden oft als Sachleistungen oder per Bezahlkarte gewährt. Er sei dafür, dass die in Deutschland lebenden Ukrainer kein Bürgergeld mehr erhalten sollten, »und zwar am besten nicht nur die, die in der Zukunft kommen, sondern alle«. Söder begründete seine Forderung mit den neuen US-Zöllen auf Importe aus Europa. Dadurch verändere sich die wirtschaftliche Lage und die Koalition brauche ein »Update, was wirtschaftlich notwendig ist«.
Quelle: dpa
Kanzleramtschef Thorsten Frei (CDU) hat sich offen für den Vorschlag von CSU-Chef Markus Söder gezeigt. In einer RTL/ntv-Sendung sagte Frei: »Tatsächlich hat Markus Söder recht, wenn er sagt, dass wir hier Leistungen ausbringen, wie es kein anderes Land der Erde tut.« Das habe auch zu einer schlechteren Integration in den Arbeitsmarkt als in anderen Ländern geführt, so Frei. Frei verwies auf die Vereinbarung im Koalitionsvertrag: »Die kann man einvernehmlich verändern. Aber darüber werden wir miteinander sprechen müssen«.
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) sagte bei dem Termin mit Reiche zur selben Frage, ob er Söders Vorschlag unterstütze: »Zu den Ukrainerinnen und Ukrainern will ich Ihnen Folgendes sagen: Ich bin der Meinung, gleiche Bedingungen für alle, für Einheimische, für Asyl, Schutzsuchende oder für Menschen, die aus der Ukraine kommen. Diejenigen, die arbeiten können, müssen arbeiten.« Im ZDF sagte der CDU-Politiker, die Regeln müssten geändert werden, damit Leistung sich lohne. Deutschland gebe 47 Milliarden Euro für Bürgergeld aus. »Ich glaube, jedem erschließt sich, dass das nicht richtig sein kann. Diese Zahl muss runter«, so Kretschmer.
Kritik aus dem CDU-Sozialflügel und der SPD
Es gibt bereits Kritik aus den eigenen Reihen. Der Chef des CDU-Arbeitnehmerflügels CDA, Dennis Radtke, sagte dem Focus: »Die letzten Jahre sollten doch eigentlich gezeigt haben, dass wir mit breitbeinigen und marktschreierischen Forderungen beim Thema Flucht und Asyl nichts erreichen können.« Das Denken in Überschriften habe »sich leider zum Arschgeweih der deutschen Politik entwickelt. Eine Zeit lang nett, aber irgendwann ist man es einfach nur noch leid«, sagte der Europaabgeordnete weiter zu den Äußerungen seines Unionskollegen.
Radtke bezeichnete im Focus den Wechsel vom Bürgergeld zu den Asylbewerberleistungen für neu ankommende Ukrainerinnen und Ukrainer als beschlossen und in der Sache richtig. Allerdings zeige sich schon dabei, wie kompliziert eine rückwirkende Umsetzung verwaltungstechnisch sei. Es sei unklar, wie das für alle Ukrainer funktionieren sollte, die bereits im System sind, sagte Radtke. Zudem sei es fraglich, »in welchem Verhältnis eine mögliche Einsparung zum Verwaltungsaufwand steht und ob dies tatsächlich bei der Integration in den Arbeitsmarkt förderlich ist«.
Und auch der Koalitionspartner steht nicht gänzlich hinter den Unionsforderungen. SPD-Generalsekretär Tim Klüssendorf bezweifelt, dass durch Kürzungen beim Bürgergeld der Staatshaushalt spürbar entlastet werden kann. »Wir werden gemeinsam sehr schnell feststellen: Anders als es die Union im Wahlkampf versprochen hat, lässt sich der Staat nicht durch Kürzungen im Bürgergeld sanieren«, sagte er web.de. Stattdessen müsse es darum gehen, mehr Menschen in Arbeit zu bringen, so Klüssendorf.
Von der SPD kommt auch Widerspruch gegen den Vorschlag von Söder. Die Einsparungen würden überschätzt und die Bürokratie wäre enorm, erklärte der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Dirk Wiese, auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur (dpa). »Offenbar erhoffen sich einige in der Debatte durch die rückwirkende Bürgergeld-Streichung für Menschen aus der Ukraine große Einsparungen im Staatshaushalt«, erklärte der SPD-Politiker. »Da wird aber vernachlässigt, dass damit zusätzlich ein erheblicher Verwaltungsaufwand insbesondere für die Kommunen entstünde, der die Einsparungen faktisch wieder aufhebt. Das wäre einzig und allein das Prinzip ›rechte Tasche, linke Tasche‹.« Statt Behörden mit zusätzlicher Bürokratie zu überfrachten, sollten sich die Jobcenter darauf konzentrieren können, Menschen schnell in gute Arbeit zu bringen. »Ich bezweifle stark, dass das mit dem Kurswechsel schneller und nachhaltiger gelänge«, betonte Wiese.
Kommentar der Redaktion
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