Melinda Cooper ist Professorin an der School of Sociology der Australian National University und Autorin des Buchs Family Values: Between Neoliberalism and the New Social Conservatism.
Frau Cooper, viele Menschen haben das Gefühl, dass die Institution der Familie in der Krise steckt. Warum ist das so?
Die Familie befindet sich immer in der Krise. Es ist schwierig, einen Moment in der modernen politischen Geschichte zu finden, in dem nicht über eine Krise der Familie diskutiert wurde. Vielleicht waren die 1950er Jahre eine Zeit der Stabilität, doch die Debatte um eine Krise der Familie ist praktisch allgegenwärtig. Meist geht sie einher mit einer Debatte über die Krise der Männer oder der Männlichkeit. Selten gibt es eine Krise der Frauen oder der Weiblichkeit. Stattdessen werden Frauen vielmehr für die Krise verantwortlich gemacht.
Sie argumentieren, dass diese vermeintliche Krise Ausdruck sich verschiebender Hierarchien innerhalb der Familie ist.
Genau. In der fordistisch-keynesianischen Ordnung der Nachkriegszeit waren die Löhne der männlichen »Breadwinner« (Alleinverdiener) und die damit verbundenen Einschränkungen der Frauen beim Zugang zu Sozialleistungen und Erwerbsbeschäftigung von entscheidender Bedeutung. Der Keynesianismus basierte stets auf strengen demografischen Annahmen; Leistungen waren immer strikt reglementiert und an Bedingungen geknüpft. In diesem »keynesianischen Pakt« wurde der lohnarbeitende Mensch immer als der weiße männliche Staatsbürger gedacht. Frauen wurden lediglich als legitime Unterhaltsberechtigte angesehen, als die klassische Ehefrau. Unverheiratete Frauen, Gastarbeitende in Europa oder afroamerikanische Menschen waren nie Teil dieses Paktes.
Warum geriet das keynesianische »Breadwinner«-Modell ins Wanken?
Wenn unverheiratete Frauen oder nicht-weiße Frauen Sozialleistungen fordern oder wenn verheiratete Frauen in den Arbeitsmarkt (wieder-)eintreten und gleiche Löhne verlangen, wie es ab den 1970er Jahren der Fall war, dann ist die gesamte ökonomische Grundlage dieses Breadwinner-Modells bedroht. Meiner Ansicht nach war es sinnvoll, mich in meinem Buch Family Values auf die 1970er Jahre zu konzentrieren, denn jede Analyse der Kapitalismuskrise in diesem Jahrzehnt ist auch eine Analyse der Krise der Familie. Neoliberale Denker sahen die Familie eindeutig als Barometer für die kapitalistischen Verhältnisse insgesamt. Daher beinhaltete ihre Antwort auf die Kapitalismuskrise unter anderem den Versuch, die Institution Familie auf eine neue Grundlage zu stellen.
Sie schreiben, dass die neoliberale Konterrevolution auch eine Gegenreaktion auf emanzipatorische Gruppen wie die Black Panthers Party oder die Lesben- und Schwulenbewegung war.
Wenn man sich den Krisendiskurs der 1970er Jahre genauer ansieht, findet man Menschen, die bis Ende der 1960er Jahre mit dem besagten keynesianischen Konsens einverstanden waren – und sich dann plötzlich dagegen wandten. Sie beklagten eine Inflation der Ansprüche, ein »Zuviel an Demokratie«. Sie argumentierten, dass der keynesianische Wohlfahrtsstaat begonnen habe, Lebensweisen zu subventionieren, für die er nie gedacht war: Massenarbeitslosigkeit, Müßiggang, Abkehr von der Familie.
Die sozialen Bewegungen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre wurden – oft ohne es zu merken – durch den expandierenden Wohlfahrtsstaat ermöglicht. Diese Bewegungen setzten sich aktiv dafür ein, die Sozialleistungen großzügiger und weniger an Bedingungen geknüpft zu gestalten, indem sie für den Zugang von Schwarzen, Migranten, geschiedenen Frauen und anderen kämpften und dafür vor Gericht zogen. Das Ergebnis war ein Sozialsystem, das auf eine Weise funktionierte, die sich die Mainstream-Keynesianer nie vorgestellt hatten.