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Das Wirtschaftsmagazin

Abbau des Sozialstaats: Die Ideologie der Eigenverantwortung

Politiker und Unternehmer fordern mehr Eigenverantwortung der Beschäftigten, um die Lohnnebenkosten zu deckeln. Das ist ein Angriff auf den Sozialstaat.

4 Minuten Lesedauer
Credit: IMAGO / Political-Moments

Überall ertönen derzeit Rufe, den Sozialstaat durch Kürzungen zu verbilligen. Den Sozialstaatsreformern geht es um die Einhaltung der Haushaltsdisziplin und die Übernahme von Verantwortung. Die aber bedeutet für Politiker etwas ganz anderes als für den Rest von uns, der zur »Eigenverantwortung« angehalten wird.

Vor allem bei der Finanzierung der Pflege müssen die Bürger Eigenverantwortung übernehmen, so die Vorsitzende des Wirtschaftssachverständigenrates, Monika Schnitzer, diese Woche. »Natürlich muss es Unterstützung geben, aber es muss auch klar sein, dass jeder damit rechnen muss, irgendwann mal ein Pflegefall zu werden. Dafür muss er auch selbst vorsorgen«, sagte sie im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Mehr »Eigenverantwortung der Versicherten« fordert auch der Arbeitgeberverband BDA sowie der Bundeskanzler Friedrich Merz: »Wo fängt Eigenverantwortung an, wo hört Eigenverantwortung auf und geht in Solidarität über? Diese Grenzen müssen auch neu gezogen werden.«

Verantwortung, Solidarität – große Worte. Worum geht es? Die ökonomische Grundlage der Debatte ist denkbar schlicht. Wer nichts zu verkaufen hat außer seine Arbeitskraft, steht ohne Arbeit einkommenslos da. Für Kranke, Alte oder Arbeitslose springt der Sozialstaat ein. Er finanziert sich im Wesentlichen über Lohnanteile, die Versicherte abgeben und damit ihrerseits Ansprüche erwerben. Diese Anteile werden zwar Lohnnebenkosten genannt, sind aber de facto keine Zusatzkosten, sondern Teil der ganz normalen Lohnkosten.  

Die Decklung der Lohnnebenkosten soll Unternehmen entlasten

Die Bundesregierung und Unternehmen kündigen nun an, diese Lohnnebenkosten deckeln zu wollen, was angesichts absehbar notwendiger Steigerungen auf Leistungskürzungen hinausläuft. »Wir werden Reformen auf den Weg bringen, damit unser Sozialstaat nicht zusätzliche Kosten auslöst, die unsere Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland immer mehr einschränken«, erklärte Merz im Juli. »Unsere Wettbewerbsfähigkeit« hat dabei einen betriebswirtschaftlichen Maßstab: den Gewinn. »Wir können die besten Autos der Welt bauen«, so Volkswagenchef Oliver Blume, »das spielt aber keine Rolle, wenn wir damit kein Geld verdienen.« Und in einer Erklärung von rund 100 deutschen Wirtschaftsverbänden vom April 2025 heißt es: »Es muss sich lohnen, in diesem Land ein Unternehmen zu führen.« 

In der Sache geht es also ums Geld. Dargestellt wird sie aber als moralische Erzählung, in der die Beschäftigten einer ethischen Verpflichtung nachkommen sollen: Verantwortung sollen sie übernehmen, also eine Zuständigkeit in einem rechtlich-moralischen Sinn. 

Dass die Beschäftigten »Eigenverantwortung« übernehmen, indem sie »selbst« oder »privat« für Alter und Pflegebedürftigkeit vorsorgen, ist für sich schon schräg. Immerhin zahlen die Versicherten ja bereits »selbst« monatlich Beiträge zum Beispiel zur Pflegeversicherung aus ihren »privaten« Einkommen. Daraus erwerben sie Rechte auf künftige Zahlungen aus der Sozialkasse. Da diese Rechte jetzt aber geschliffen werden sollen, wird eine Versorgungslücke geschaffen und die Schließung dieser Lücke in die Verantwortung der Lohnabhängigen gestellt. Sie sollen künftig nicht mehr nur aus ihrem Bruttolohn vorsorgen, sondern auch aus ihrem Nettolohn. Nur letzteres gilt als »private« Vorsorge und als gelebte Eigenverantwortung. Wer ihr nicht nachkommt, handelt verantwortungslos. Wer ihr aber nachkommt, der wird laut FAZ direkt ins Reich der Freiheit geführt: »Dem Einzelnen mehr Verantwortung zuzuweisen« und ihn »mehr in die Pflicht zu nehmen, wäre nicht nur aufgrund der wirtschaftlichen und demografischen Entwicklung dringend geboten. Sondern auch, weil es eine aufgeklärte Haltung fördert – im Sinne Kants, der Aufklärung einmal definierte als ›Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit‹«. In diesem Sinne ist es die Verantwortung der Politik, die Menschen zur Eigenverantwortung anzuhalten – beziehungsweise in der Sprache der Volkswirtschaftslehre: durch Leistungskürzungen anzureizen.

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Stephan Kaufmann

Stephan Kaufmann ist Wirtschaftsjournalist, verfasste einige Bücher und schreibt heute unter anderem für nd.DieWoche, Frankfurter Rundschau, Freitag und Deutschlandfunk.

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