Die Bundesregierung erhöht den Druck auf Arbeitslose. Auf die zweite Nullrunde der Regelsätze folgt der »Herbst der Reformen«, in dem das Bürgergeld mit Vermittlungsvorrang und schärferen Sanktionen zur »neuen Grundsicherung« rückabgewickelt werden soll. »In diesem Herbst gehen wir die Abschaffung des Bürgergeldes an. Die Zahl der Bezieher muss in einer neuen Grundsicherung deutlich niedriger ausfallen«, verkündete der CDU-Fraktionsvorsitzende Jens Spahn am Wochenende. Mit härteren und schnelleren Sanktionen soll das Angebot an Arbeitskräften ausgeweitet und ein niedriger einstelliger Milliardenbetrag im Haushalt eingespart werden.
Zwischen Betreuung und Kontrolle
In den vergangenen Jahrzehnten haben viele Länder der OECD ihre Arbeitslosenversicherungen von der reinen Geldauszahlung auf eine »aktivierende« Arbeitsmarktpolitik umgestellt. In Deutschland waren das die Hartz-IV-Reformen unter Gerhard Schröder (SPD). Die Jobsuche sollte mit mehr ökonomischen Anreizen und einer fachgerechten Betreuung aktiv gefordert und gefördert werden. Damit gingen je nach Land mehr oder weniger Zuckerbrot und Peitsche einher: Belohnungs- und zugleich Sanktionsmechanismen, die das gewünschte Verhalten der Leistungsbeziehenden hervorbringen sollten.
Aber: Das Bundesverfassungsgericht machte in seinem Sanktionsurteil 2019 deutlich, dass sich Menschen in einem Sozialstaat »die physische und soziokulturelle Existenz« nicht verdienen müssen. Die Menschenwürde ist ein Grundrecht. Weiterhin urteilte das Gericht hinsichtlich der Sanktionen, dass »Prognosen zu den Wirkungen solcher Regelungen hinreichend verlässlich sein müssen«, und sich nicht einfach auf »plausible Annahmen« stützen dürfen. Was ist also die wissenschaftliche Erkenntnislage zur Wirkung von Sanktionen in der Grundsicherung? Helfen sie dabei, Arbeitslose nachhaltig in ein Beschäftigungsverhältnis zu bringen?
Zur Wirkung von Sanktionen im Arbeitslosengeld in wohlhabenden Ländern sind laut einer 2022 erschienenen Auswertung des Forschungsstands insgesamt 94 quantitative Studien veröffentlicht worden. Die Mehrzahl dieser Studien untersucht den Zusammenhang zwischen Sanktionen und einer Beschäftigungsaufnahme innerhalb einer kurzen Frist von maximal zwei Jahren. Immer mehr Studien betrachten aber die Auswirkungen der Sanktionen über eine längere Frist und über eine breitere Reihe von Indikatoren und kommen deshalb zu differenzierteren Schlüssen. In Deutschland liefert vor allem das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit die wissenschaftliche Expertise. Einschränkend gilt für alle Studien, dass sie den Zeitraum vor dem Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts untersuchen, der Sanktionen quantitativ und qualitativ gemildert hat. Vier wichtige Erkenntnisse lassen sich aus den vielen Studien ableiten.
Erkenntnis #1: Kurzfristig wirken Sanktionen. Bereits das Risiko einer Sanktion erhöht die Arbeitsaufnahme.
Sanktionen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass innerhalb der nächsten Monate eine Beschäftigung aufgenommen wird, zum Teil deutlich. Die Stärke dieses Effekts ist kontextabhängig, doch der Effekt an sich nicht. Viele Studien untersuchen dieses Verhältnis jedoch nur über einen kurzen Beobachtungszeitraum und können somit keine Aussagen über die Qualität und langfristige Folgen der anschließenden Beschäftigung treffen.
Nicht nur die Verhängung einer Sanktion, sondern bereits das Risiko einer Verhängung erhöht die Beschäftigungsaufnahme. Der IAB-Forscher Markus Wolf hat für Deutschland die Wirkung des Sanktionsrisikos auf die Beschäftigungsaufnahme und -qualität untersucht. Er findet, dass »die monatliche Übergangsrate in Beschäftigung umso höher ist, je höher die vorhergesagte Sanktionswahrscheinlichkeit ist.« Hinsichtlich der Beschäftigungsqualität zeigt sich, dass bei einer moderaten Sanktionswahrscheinlichkeit zunächst der Übergang in qualifizierte Beschäftigung steigt, während bei einer hohen Sanktionswahrscheinlichkeit der Übergang in Hilfs- und Anlerntätigkeiten steigt und das durchschnittliche monatliche Erwerbseinkommen über fünf Jahre in diesem Fall geringer ausfällt. Bereits die Möglichkeit einer Sanktion kann also Wirkung zeigen, aber je wahrscheinlicher dies ist, desto schlechter sind die Jobs, die anschließend aufgenommen werden.
Erkenntnis #2: Sanktionen haben negative, nicht intendierte Nebenfolgen und langfristige Konsequenzen
Nicht nur steigern Sanktionen die Beschäftigungsaufnahme, sie fördern in geringerem Maße auch den Austritt aus dem (formellen) Arbeitsmarkt. Viele Studien kommen zu dem Ergebnis, dass sich Sanktionierte zurückziehen – aus der Fallbearbeitung, dem Leistungsbezug und ganz aus dem Arbeitsmarkt. Die letzte Station heißt oft Familie oder Schwarzarbeit. Gerade junge alleinstehende Leistungsbeziehende ohne familiäre Unterstützung treffen die Sanktionen schwer – vom Sperren der Energieversorgung bis zum Verlust der Wohnung. Neben dem Einkommen leiden unter den Sanktionen auch die mentale Gesundheit und das Wohlergehen der Kinder, falls vorhanden.
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