Gabor Steingart ist ein Mann, auf den die neoliberale Elite hört. Der Medienunternehmer (ThePioneer, Ex-Handelsblatt) und Meinungsmacher ist seit Jahrzehnten im Geschäft und hat einen direkten Zugang zum Zentrum der Macht. Dort, auf der Spree, zwischen Kanzleramt und Hauptbahnhof, liegt auch sein Dampfer PioneerOne. Kürzlich hat er an Bord sein neues Buch Systemversagen: Aufstieg und Fall einer großartigen Wirtschaftsnation vorgestellt und mit dem CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann und der Journalistin Dagmar Rosenfeld diskutiert.
Er will nicht weniger als eine »Betriebsanleitung für den Wiederaufstieg« Deutschlands vorlegen. Dabei schlägt er auf 530 Seiten einen großen Bogen über die Wirtschaftsgeschichte bis in die Gegenwart, der deutlich knapper hätte ausfallen können. Genauso wie sein Buch Teile seiner früheren Werke wiederverwertet, sind seine Ideen, die über neoliberale Allgemeinplätze kaum hinausgehen, ermattet und abgenutzt. Steingart und das anwesende Umfeld wirken intellektuell erschöpft, da sie die Folgen der eigenen herrschenden Politik nicht verstehen. Ihnen bleibt nur eine Radikalisierung des eigenen Programms, das autoritär durchgesetzt werden müsste.
Schiefe Sprachbilder
Zu den provokantesten Aphorismen des Philosophen Friedrich Nietzsche gehört seine Auffassung von Wahrheit: »Ein bewegliches Heer von Metaphern und Metonymien, [...] die poetisch und rhetorisch gesteigert wurden und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken.« Genauso hält es Gabor Steingart, der Nietzsche in seinem Buch zweimal zitiert, mit der »Wahrheit«. Blumige Sprachbilder und eingeübte Floskeln ersetzen häufig eine fundierte Analyse. Seine wichtigste Metapher, die sich durch das gesamte Buch zieht, ist die vom produktiven »Kern« der Volkswirtschaft, der die unproduktive »Kruste«, zu der Steingart zufolge Rentner, Hausfrauen und Arbeitslose zählen, mit »Energie« versorgt.
Das ist von Grund auf verkehrt, denn die Basis jeder Wirtschaft zu jeder Zeit ist nicht die Produktion, sondern die eigene Reproduktion. Menschen müssen geboren, ernährt und erzogen werden, bevor sie überhaupt ihre Arbeitskraft auf dem Markt anbieten können, und sie müssen ihre Arbeitskraft über die Zeit aufrechterhalten, sprich: reproduzieren. Damit geraten all die Arbeiten in den Blick, die nicht bezahlt werden und meist von Frauen im Kreise der Familie erbracht werden. Darüber hinaus müssen auch die Lebensgrundlagen reproduziert werden, das heißt, die natürliche Umwelt muss dazu in der Lage sein, menschliches Leben zu tragen. Sind diese Bedingungen nicht gegeben, gibt es nicht nur keine Produktion – sondern auch kein Leben. Folglich ist es die vermeintlich »produktive« Wirtschaft, die parasitär von der »unproduktiven« Gesellschaft und Natur lebt – genau umgekehrt als von Steingart beschrieben.
Reproduktionsarbeit ist keine Nebensächlichkeit, wie die jüngste Zeitverwendungserhebung für Deutschland belegt: Frauen arbeiten im Durchschnitt über eine Stunde länger pro Woche als Männer, obwohl sie weniger am Arbeitsmarkt teilnehmen – weil sie fast 10 Stunden mehr unbezahlte Arbeit pro Woche leisten. Würde die unbezahlte Arbeit zum Durchschnittslohn vergütet werden, entspräche das einem Drittel des Bruttoinlandsprodukts – mehr als die gesamte Autoindustrie und der Maschinenbau! Steingarts verkürztes Verständnis von Wirtschaft hat grobe handwerkliche Fehler zur Folge, wenn er zum Beispiel die OECD-Zahlen zitiert, nach denen deutsche Arbeitnehmer im Durchschnitt mit circa 1350 Stunden pro Jahr weniger Lohnarbeit leisten als US-Amerikaner mit 1800 Stunden. Laut Steingart hat das mit der Ausweitung von Freizeit und zu einfachen Krankschreibungen zu tun, statt wie nach einhelliger Expertenmeinung mit der Tatsache, dass Frauen, insbesondere Mütter, überwiegend in Teilzeit arbeiten – und damit den Durchschnitt senken. Der einfachste Weg, das Arbeitsvolumen zu erhöhen, wäre dementsprechend, die Kinderbetreuung und Pflege zu stärken. Kein Thema für Herrn Steingart.
Mit dem Sprachbild von Kern und Kruste verstrickt sich Steingart weiter in fundamentale Widersprüche, die er nicht auflösen kann. Für ihn sind nämlich Bildung und Wissen die »Kernenergie« der Volkswirtschaft. Der Kern ist aber von ihm durch Aktivitäten definiert, die Geldwerte schaffen. Sind Eltern in Elternzeit, die ihre Kinder großziehen – und damit die nächste Generation an Arbeitskräften – nach Steingart produktiv oder unproduktiv? Das weitgehend öffentliche und kostenlose Bildungssystem Deutschlands generiert auch kaum unmittelbaren Mehrwert. Das Gehalt von Lehrkräften gehört zum verschmähten »Staatskonsum«. Schlimmer noch: Je marktförmiger Bildung und Wissen angeboten werden, desto eher sind sie hinter Bezahlschranken, die nicht jeder überwinden kann – mit fatalen Konsequenzen für das Bildungsniveau und Innovation. Steingart bräuchte also für eine logische Herleitung ein Konzept öffentlicher Güter, die positive externe Effekte haben. Das hat er nicht, stattdessen will er öffentliches Vermögen und Dienstleistungen wie die von ihm hochgeschätzte Margaret Thatcher radikal privatisieren. Steingarts »Werttheorie« scheitert an der ersten Hürde.
Unverständlich ist ebenfalls die konsequente Fehlbezeichnung von Geld als »Energie«. Auf die Gefahr hin, das Offensichtliche zu betonen: Geld wird aus dem Nichts geschaffen, Energie nicht. Ersteres ist ein soziales Konstrukt, letzteres ein naturwissenschaftliches Konzept. Das führt zu rhetorischen Blüten wie zum Beispiel, dass »Bergleute im Kohlebergbau in Wahrheit mehr Energie absaugen, als sie liefern.« Das ist falsch, aber Steingart meint etwas anderes: Es kostet mehr, als es an Einnahmen abwirft. Die Gleichsetzung von Geld und Energie ist nichts weiter als ein plumper Versuch, soziale Verhältnisse zu natürlichen zu verklären, denn Steingarts Theorie kann nur aufgehen, wenn für Geld der Energieerhaltungssatz gelten würde. »Es kann nur verteilt werden, was vorher erwirtschaftet wurde«, gilt eben nicht für Geld. Es ist immer wieder verwunderlich, dass Liberale das Kreditgeldsystem nicht verstehen (wollen).
Die neoliberale Wende und ihre Folgen
Steingarts Streifzug durch die Wirtschaftsgeschichte ist trotz seiner Länge flott und unterhaltsam geschrieben und deckt neben Deutschland mit den USA, China, Indien und Russland die wesentlichen aktuellen Weltmächte ab. Seine Erzählung wird hochinteressant, wenn er die Gründung der Bundesrepublik im Spiegel der Sowjetunion betrachtet. Ohne die Systemkonkurrenz, so Steingart, hätte es für Eliten im Westen weniger Antrieb gegeben, den Sozialstaat auszubauen. Leider führt er diesen Gedanken mit Blick auf das Ende des Kalten Kriegs nicht weiter aus. Eine kritische Bestandsaufnahme des neoliberalen Triumphzugs über die Welt hätte ihm die wahren Gründe für die gegenwärtige Wachstumsschwäche und Erosion der Demokratie geliefert. Füllen wir diese Lücke aus, kommen wir zu entgegengesetzten Schlussfolgerungen.
